Der Landstrich im Pontar Delta und südlich von Nowigrad wird 'Grashügel' genannt, diese grenzen an Graufeld, bereits ein Teil von Velen.
Südöstlich des Pontar liegen die Sturmfelder.
Das Land im Nordosten von Nowigrad - am rechten Pontarufer.
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von/nach: Haus in Ferneck / Sturmfelder außerhalb Nowigrads
Datum: 17. September 1277
Uhrzeit: 16:00 Uhr
betrifft: Aris Moriturus
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"Hexen,... wirkliche Hexen?" fragte Rolan skeptisch, während er, wie ein guter Beschützer, aufmerksam die Umgebung im Auge behielt.
Nachdem sie Ferneck verlassen hatten, machten sich zuerst Felder und Wiesen in allen Formen und Farben um sie herum breit. Männer und Frauen gingen darauf ihren Tätigkeiten nach, zogen Unkraut oder holten die letzte Ernte des Jahres ein oder hüteten weidende Tiere. Ab und an blickte einer der Bauern zum Himmel, hob seine Kappe und wischte sich den Schweiß von der Stirn, denn die nachmittäglichen Temperaturen waren spätsommerlich warm und die Sonne brannte gnadenlos auf die Menschen unter ihr herab. Wann immer eine kleine Baumgruppe links oder rechts vom Weg auftauchte, machte Rolan einen kleinen Umweg zu ihr hin, um sich zumindest für ein paar Sekunden lang vor der Sonne zu schützen. Seine Haut wurde an vielen Stellen bereits rot und schälte sich, als wenn er sie schon Stunden lang dem Licht ausgesetzt hätte.
"Ich dachte immer, das wären nur Märchengeschichten, die man Kindern erzählt, damit sie auch bloß artig blieben."
Er war als Bub sehr abergläubisch erzogen worden und hätte sich bei den Geschichten um kinderfressende, alte Vetteln möglicherweise eingenässt. Aber während seiner langen Zeit der Wanderschaft und später als Söldner, war viel von dem Aberglauben wieder von ihm abgefallen. Das bodenständige Leben als Knecht und Soldat brachte einen nur selten in Kontakt mit übernatürlichen Dingen oder Wesen.
Aber bis vor kurzem hatte er Geschichten um Nekromanten und wandelnde Tote auch für Sagen und Mythen gehalten. Vieles hatte sich geändert, seit er unter dem Baum, an dem er gehangen hatte, erwacht war.
Er zuckte mit den Schultern, als wäre er sich nicht so ganz über seine eigenen Schlüsse einig.
"Hört sich nach einer guten Betrügerin an."
Rolan schätzte Leute, die geschickt im Umgang mit anderen Menschen waren und ihnen Bären aufbinden oder das letzte Hemd abschwatzen konnten. Natürlich nur, wenn er keines ihrer Opfer war. Zu gerne hätte der ehemalige Söldner diese Fähigkeiten verfeinert und so sein Geld verdient. Es war auch nicht so viel verwerflicher, als Leute für Geld umzubringen, oder? Aber letztendlich hatte er nur gelernt, mit spielerischen Tricks zu betrügen. Und viel kam bei sowas in der Regel nicht heraus, bevor man die Beine in die Hand nehmen musste. Der heutige Tag war ein hervorragendes Beispiel dafür.
"Eine schlaue Frau,... ganz objektiv betrachtet. Aber was meinst du damit, dass sie nicht in der Lage sein könnte, zu sterben? Hat sie sich selbst untot gezaubert?"
Eine Frage, deren Antwort vermutlich ein Übermaß an nekromantischem Wissen erforderte. Für Rolan hingegen war es einfach nur auf den Punkt. Ein simpler Schluss, den er zu ihren Worten zog. Er betrachtete stirnrunzelnd den Dolch an seiner Seite.
"Nur mit einem Dolch kommen wir dann aber nicht weiter, wenn sie ... so ist, wie ich."
Sein Blick wurde für einen Moment sehr ernst, als er Aris Profil neben sich musterte. Aufgrund seiner Größe, sah er dabei beinahe nur ihren Scheitel. War die Kleine wirklich so herzlos, wie er nun dachte?
"Du willst sie wirklich umbringen für dieses Wissen? Diese Bücher? Ich meine,... es ist immerhin deine Großmutter! Sowas macht man mit Familie nicht,..."
Unschlüssig winkte er mit einer wegwerfenden Geste ab.
"Na gut,... ich glaube, wenn ich meinen Alten nochmal treffen würde, könnte ich auch nicht dafür garantieren, dass der Dolch im Hosenbund bleibt. Aber,... glaubst du, wir können sie vielleicht anders 'überzeugen', sich von den Büchern zu trennen? Oder sie gegen etwas eintauschen?"
Dieses ganze Gerede über Hexen und übernatürlichen Kram ließ Rolans Phantasie eine Berg- und Talfahrt machen. Vor seinem geistigen Auge stellte er sich diese drei Hexen vor. Alt und runzlig, mit einer Vielzahl an Warzen und abgebrochenen, gelben Zähnen. Und wie sie sich in Tiere verwandeln konnten. Mehr zu sich selbst, als an Aris gerichtet, murmelte er gedankenverloren vor sich hin.
"Vielleicht hat sich das alles auch schon erledigt, wenn diese überlebende Hexe in der Zwischenzeit zurückgekehrt und nicht begeistert von der Hochstaplerin gewesen ist."
In der Entfernung tauchte ein größeres Waldstück vor ihnen auf, welches das Ende der Novigrad umgebenden Felder markierte. Endlich, so dachte Rolan bei sich, würden sie aus dieser vermaledeiten Sonne heraus kommen.
"Wirkliche echte Hexen, wie in den Gruselmärchen", nickte Aris zustimmend und stieg über den Ast eines Baumes, den ein Sturm heruntergeweht haben musste und der sich mitten auf dem Weg befand, den sie nun eingeschlagen hatten. Um die Lösung für eines ihrer unzähligen Probleme zu finden. Rolan löste sich immer öfter von ihr, um Schutz vor der Sonne zu finden. Diesen fand er in den Schatten, die die Bäume warfen, welche am Wegesrand wuchsen. Aris folgte ihm sogar manchmal, damit er seinen Radius erweitern und den Baum, den er ansteuerte, auch wirklich erreichen konnte. "Ich denke, es ist eine Mischung aus Beidem. Eine Legende fußt meistens auf einem Funken Wahrheit. Du weisst schon...ein Mensch erlebt etwas, sieht etwas Wahrhaftiges. Er erzählt es weiter, doch die Geschichte wird von Mund zu Mund, der sie erzählt, verändert. Etwas wird hinzugefügt, Taten ausgeschmückt...und schon dient das Fressen von Kindern und schwarze Magie dazu, Kindern Angst zu machen." Als ob man Gehorsam auf keine andere Weise, als durch Gewalt und Angst hervorrufen konnte. Aris sah in den blauen Himmel und dachte kurz an ihre eigene Mutter. Diese hatte solche Taktiken niemals genutzt. Eine kluge Frau, die war sie wirklich gewesen. Die Nekromantin half Otto von ihrer Schulter, der nun vollends erwacht war und HUnger verspürte. "Flieg mein Freund." Der schwarze Vogel stiess sich kraftvoll von dem schmalen Arm ab, der sich in den Himmel empor streckte und krächzte noch einmal, als würde er Abschied nehmen.
Die weissblonde Frau lächelte versonnen, als Rolan so ganz auf den Holzweg geriet, was seine von ihm ausgesprochenen Gedankengänge betraf. "Nein, das sage ich nur so...weil Unkraut bekanntlich nicht vergeht. Sie wird sterben. Bald. Sie ist alt und krank. Ein Lungenleiden, welches sie von innen zerfrisst. Aber neige deswegen nicht dazu, sie zu unterschätzen. Auf dem Stück Sumpf, in dem sie lebt, wird es von Fallen wimmeln."
Das ungleiche Paar lief weiter und schon nach wenigen Schritten spürte Aris Rolans Blicke auf sich. Fragend warf sie ihm einen Seitenblick zu, als die Erklärung bereits folgte. Ihre Mundwinkel zuckten. "Man tötet auch niemanden ausserhalb der Familie. Blut ist trotzdem nicht immer dicker als Wasser." Mit einem Seufzen blieb die kleine Frau stehen und sah zu Rolan auf. "Wie kommst du denn darauf, dass ich sie töten will? Ich verlange nur, was vom Erbrecht rechtsmäßig mir gehört. Und das sind die Bücher. Sie hat sie zu ihren besten Lebzeiten schon meiner Mutter nicht geben wollen." Und insgeheim gab Aris Madame Frith Mitschuld am Tod ihrer geliebten Mama. Wer wusste schon, wie sich die Dinge entwickelt hätten, hätte Jennika damals das Wissen der Bücher besessen. Vielleicht wäre sie nicht gestorben und Aris hätte nicht so früh so eine harte Schale entwickeln müssen, um ihr Überleben zu sichern. Nachdenklich rieb sie sich die Wangen mit beiden Händen und blickte dan gen Himmel, doch Otto war noch nicht zu sehen. Das vertraute Gewicht auf ihrer Schulter fehlte ihr und liess sie sich unausgeglichen fühlen. "Ich wäre mir allerdings nicht so sicher, dass sie nicht den Versuch unternehmen wird, UNS umzubringen." Sie nahm den Weg wieder auf und zählte anhand ihrer Finger die Fertigkeiten ihrer genetischen Grossmutter auf, die nichts, aber auch gar nichts mit dem Bildnis zu tun hatte, welches man von einer Oma vielleicht haben sollte. "Sie ist gerissen in Verhandlungssachen, bewandert in Alchemie und Kräuterkunde. Also trinken und essen wir nichts, was sie uns anbietet und gehen auf keinen lukrrativ wirkenden Verhandlungsvorschlag sofort ein. Sie wird sofort wissen, was du bist und es könnte sein, dass sie an dir Interesse zeigt. Aber auch das...kommt natürlich nicht in Frage. Du willst doch weiterleben, oder? Also, wenn das hier mit uns vorbei ist und jeder seiner Wege gehen kann." Denn Aris war ziemlich zuversichtlich, dass ihr genau diese Macht nach den Studien der Bücher möglich sein würde. WENN sie diese in die Finger bekam und FALLS sie erlernen konnte, was in den Zeilen stand.
"Wünsch dir besser nicht, dass die Krähe zurück ist...denn dann haben wir es mit einer waschechten Hexe zu tun und nicht "nur" mit einer irren alten durchtriebenen Frau." Was jedoch schwerer wog, vermochte die Nekromantin in diesem Moment gar nicht so genau zu sagen.
"Aber...lass uns jetzt erstmal die Runen suchen. Und hoffen, dass wir sie finden und sie uns auch helfen...."
Als sie im Waldstück ankamen und in die rettende Dunkelheit der eng stehenden Nadelbäume und Tannen verschwanden, wurde es merklich kühler um sie herum. Rolans Schulter sackten herab, er war die ganze Zeit auf Spannung gewesen. Getrieben von der Flucht vor der Sonne selbst. Auch er, so merkte Aris, hatte mit ihr nur Probleme. Mit ihr und dem, was sie ihm angetan hatte. Fremdgesteuert, ständig befiel ihn eine neue Wunde, die er zwar nicht spürte, die ihn aber dennoch einschränkte und er konnte seinen Freiheitsdrang nicht mehr ausleben, war er doch gezwungen, in Aris Nähe zu verweilen, um nicht wie eine Stoffpuppe umzufallen.
Sie musste optimistisch bleiben. Das alles konnte ein Ende haben. Und bis dahin mussten sie sich miteinander arrangieren. Also bot sie ihm ihren Wasserschlauch an, wissend, dass er immerzu durstig war. Wieder glitt ihr Blick zum Himmel, der nun, durch die hoch ausgestreckten Baumkronen, im Durchmesser ihres Sichtradius kleiner geworden war. Doch ganz oben erspähte sie einen schwarzen Punkt. Otto. Zufriedenheit breitete sich in ihr aus. Gleich würde das Trio also komplett sein. "Sag mal, hat der Hexer auch etwas dazu gesagt, was wir mit den Runen anstellen müssen, sollten wir sie finden?" Denn was sollte man mit einem solchen Schatz schon anfangen, wenn man ihn nicht zu nutzen wusste?
Rolan fühlte sich im Wald wahrlich wohl. Und das lag nicht einmal nur daran, dass er endlich aus der Sonne heraus kam, die ihn bereits in Gesicht und auf den Händen krebsrot eingefärbt hatte. So weit, dass die Haut sich schälte und kleine Brandblasen warf. Erleichtert seufzte er auf und blickte zum Blätterdach der Bäume hinauf, wie es sanft im Wind hin und her wog. Dieses Geräusch hatte ihn früher immer direkt müde werden lassen. Nun, das war jetzt vorbei. Allerdings fühlte Rolan sich im Wald geborgen und beinahe, wie Zuhause.
Als Kind hatte er die Arbeit auf den Feldern stets gehasst. Schon damals hatte ihm die Sonne zugesetzt, wenn sein Vater ihn gezwungen hatte, zur Mittagshitze Unkraut zu rupfen oder anstelle eines Ochsen den Pflug zu ziehen. Im dem Hof angrenzenden Wald Holz zu hacken hingegen, hatte Rolan stets genossen. Sobald ihn die Bäume umhüllt hatten und den Blick auf Wohnhaus und Felder aussperrten, hatte er sich wie in einer anderen Welt gefühlt. Wie oft hatte er sich in seiner jugendhaften Naivität vorgestellt, eines Tages dort ein Baumhaus zu bauen und nie wieder den Wald zu verlassen. Doch war er immer wieder zurück gekehrt. In das Leben, welches er hasste. Vermutlich nur, um seiner Mutter nicht das Herz zu brechen.
Was er dann eines Tages letztendlich doch getan hatte, als er nach einer besonders heftigen Prügel vom Alten von Zuhause fort rannte. Dass er sich dann weiterhin als Knecht und Feldarbeiter verdingt hatte, war dabei so typisch für Rolan gewesen, der im Leben stets die falschen Entscheidungen getroffen hatte. Warum war er nicht Wilderer oder Holzarbeiter geworden?
Er blickte Otto sehnsüchtig nach, wie er auf kräftigen Schwingenschlägen in den Himmel hinauf stieg und die Lücke zwischen zwei Bäumen ausnutzte, um über dem Blätterdach zu verschwinden. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht gewesen, wenn Aris seinen Geist in einem Vogel wiederbelebt hätte. Die endlosen Weiten des Himmels. Unbegrenzte Freiheit. Das schien ja ein ganz nettes Leben zu sein. Solange niemand mit Pfeil und Bogen auf einen wartete. Oder ein Greifvogel. Wobei Rolan es für sehr unwahrscheinlich hielt, dass das freche Mistvieh nicht mit einem Adler klarkommen würde. So wie er den Raben kennengelernt hatte, würden wohl sogar Greife und Wyvern vor diesem kuschen.
Er schmunzelte zu den Worten der Nekromantin, dass man eigentlich niemanden töten sollte. Das war so eine naive und weltfremde Einstellung. Vor allem für einen Mann, der Jahre lang sein Geld damit verdient hatte, Menschen im Kampf umzubringen. Solange es ein fairer Kampf war und sein Gegenüber im stillen Einverständnis bereit war, sein Leben aufs Spiel zu setzen, so empfand es Rolan aber nicht als Schandtat, dieses Leben auch zu nehmen. Wobei er sich doch insgeheim wünschte, dass diese Welt, wie Aris sie sich vorstellte, wirklich existieren würde.
"Leider denken die wenigsten Menschen so, Aris. In dieser Welt herrscht das Recht des Stärkeren. Und ein Großteil ihrer Bevölkerung rechnet einem Leben keinen großen Wert an."
Er deutete mit einem Daumen über die Schulter, um ihren zurückliegenden Weg damit zu symbolisieren.
"Die Alchemistin, die Zwergin und der Hexer,..." begann er und stockte kurz, weil er gar nicht so genau wusste, was er eigentlich sagen wollte. "Ähm,... also für mich war das ein seltener Anblick, gleich drei Personen auf einem Haufen zu sehen, die einen nicht ausnutzen wollten und sogar selbstlos gehandelt haben."
Sanft tätschelte er den Proviantbeutel an seiner Seite und machte ein finsteres Gesicht.
"Ich habe schon Leute für weniger töten sehen. Und hier bekamen wir es mehr oder weniger geschenkt. Habe ich vorher so noch nicht erlebt. Aber für eine Nekromantin,... ist es nicht irgendwie störend, dem Leben einen hohen Wert anzurechnen? Oder siehst du es als gute Tat, dort Leben zu schenken, wo zuvor keines mehr war?"
Für eine Weile gingen sie schweigend weiter. Scheinbar hatte der vergangene Sturm auch hier gewütet, denn der Weg war an einer Stelle ausgespült und zwang sie dazu, einen Umweg durch das dichte Unterholz zu nehmen. An manchen Stellen mussten sie regelrecht über gefallene Baumstämme klettern und mannshohe Böschungen erklimmen. Rolan half der Nekromantin so gut er konnte, bot ihr die Hand und zog sie hinauf, wo sie Probleme hatte, aus eigener Kraft hin zu gelangen. Das tat er ohne zu murren und ohne einen schnippischen Kommentar von sich zu geben. Eine Seltenheit für ihn. Aber seine Gedanken kreisten um die fast schon philosophischen Gespräche, die er mit seiner Begleiterin führte. Eigentlich, so fand Rolan, war er für sowas zu dumm. Aber seine Söldnerkameraden hatten ihn immer wieder damit aufgezogen, dass er viel zu schlau für diesen Beruf war und Wörter kannte, die ein ordentlicher Söldner gar nicht kennen sollte. Rolan war als Kind stets aufgeweckt und neugierig gewesen. Auch die tägliche Prügel hatte ihn nicht, wie so viele andere Opfer häuslicher Gewalt, in Depression und Wut fallen lassen. Und wer weiß,... vielleicht erhöhten Schläge auf den Hinterkopf ja wirklich das Denkvermögen.
"Wenn deine Großmutter also bald von selbst stirbt,... warum hast du nicht einfach noch die paar Monate gewartet? Und mal abgesehen davon,... du weißt schon, dass Erbrecht so nicht funktioniert? Solange die alte Frau lebt, gehören die Bücher ihr. Kein Grund, sie an deine Mutter oder dich weiter zu geben."
Er zuckte mit den Schultern, als wenn er einfach nicht das Problem an der ganzen Sache sehen konnte.
"Also, so wie ich das sehe, haben wir nur zwei Möglichkeiten, wenn wir Gewalt vermeiden wollen. Wir überreden sie mit einem Deal oder Handel. Oder wir bluffen und drohen zumindest mit Gewalt. Ich meine,... wenn sie keine richtige Hexe ist und keine Zauberkräfte besitzt, dann kann sie uns nicht gefährlich werden, oder? Fallen und Gifte sind eine Sache, aber vor dem Interesse und Verhandlungsgeschick einer sterbenden Frau fürchte ich mich wirklich nicht."
Ihre Frage ließ den Untoten ein wenig grübeln. Erneut war es das Aufhorchen, ob er denn eigentlich weiterleben wollte. Und je weiter sein Tod hinter ihm lag, desto weniger konnte er noch diese Frage mit Nein beantworten. Zu verschwommen waren seine Erinnerungen an das, was danach gekommen war. Es glich nun mehr einem Traum, an den man sich nur noch bruchstückhaft erinnern konnte und der schon bald vollends aus dem Gedächtnis verschwunden sein würde. Und der menschliche Überlebenswille war in seinem Geist wieder stark geworden, was auch seine Panik erklärte, als er zuvor die Säure getrunken hatte.
Demnach schwieg er einfach nur und gab als Antwort ein weiteres Schulterzucken, was alles bedeuten konnte. Unwissenheit, Gleichgültigkeit, Fatalismus. Ebenso konnte er ihre Frage bezüglich der Orte der Macht nicht beantworten, denn der Hexer hatte ihm nichts dazu erklärt.
Sie waren nun etwa zwei Stunden unterwegs, seitdem sie das Haus der Alchemistin verlassen hatten und langsam senkte sich die Sonne dem Horizont entgegen. Abwägend schaute Rolan in die Richtung, aus der orange-goldenes Licht Myriaden von Strahlen zwischen den Baumstämmen schuf. Ein Bild, welches jedem anderen wohl Gänsehaut bereiten konnte und ihn irgendwie an seinen Tod am Strang erinnerte. Warum allerdings, wusste er dabei nicht.
"Wie geht es dir?" fragte er ganz sachlich.
"Sollen wir einen Lagerplatz suchen oder nutzen wir die Dunkelheit aus, um den Wald zu verlassen und die wesentlich direktere und gängigere Straße zu nutzen?"
"Ach ich weiss nicht." Aris zuckte die schmalen Schultern, trotz Rolans Worten überzeugt von ihrer Weltanschauung. "Ich finde nicht, dass man Stärke in Muskelkraft oder Kampfgeschick messen kann." Für die Nekromantin zählten andere Werte, die in der Lage war, Überlegenheit zu erlangen. Über eine Situation. Über andere Menschen. Kurz hing sie ihren Gedanken darüber nach, ob es wirklich ein Akt der Selbstlosigkeit war, dem sie da begegnet waren. Nur um dann ihre Meinung für sich zu behalten. Auf die Frage, die er zu ihr und ihrer Einstellung, sowie ihren Absichten in Sachen Nekromantie stellte, schwieg sie fürs Erste. Denn die kleine frau war sich gar nicht mal so sicher, wie die Antwort ausfallen würde. Gab es ihr eine positive Art der Zufriedenheit, wenn sie jemanden erweckte? Hatte sie sich damit wohl gefühlt, Rolan zu erwecken? Wenn sie von der Notwendigkeit absah...dann nein. Darüber, wie sich Emotionen bei Toten entwickeln konnten, hatte sie nicht nachgedacht und das war wohl auch zu viel verlangt. Niemals hatte sie diese Art der Zusammengehörigkeit erwartet, wie sie sie nun als Fluch und Segen zugleich mit Rolan verband. "Das Leben eben durch seine Endlichkeit einen hohen Stellenwert. Ohne den Tod kann man das Leben nicht schätzen." Nekromanten waren neugierig. Von Natur aus. Sie wollten erkunden, was sich im Jenseits abspielte. Ob es etwas nach dem Tode gab. Nicht immer lagen dunkle Absichten hinter ihrem Tun. Doch mit einem schlechten Rufverhielt es sich nunmal so, dass dieser leicht aufgebaut und nur schwer wieder bereinigt werden konnte. Also liess sie es gleich sein. Sollten alle Menschen um sie herum denken, was sie wollten.
Aris griff nach der ihr dargebotenen Hand und zog sich so gut es ging daran über Hindernisse. Sie kletterte und kroch, wann immer es nötig war und geriet bald aus der Puste.
"Ich kann nicht noch länger warten. Ich habe keine Monate. WIR haben sie nicht. Die Situationen waren bislang sehr brenzlig und nicht immer werden wir so viel Glück haben, wie es uns widerfahren ist. Es könnte sein, dass du dabei auf der Strecke bleibst, wenn ich zu viel Energie verliere." Und das, auch wenn sie es nicht aussprach, wollte sie nicht wirklich. Sie hatte sich an Rolan gewöhnt, sie brauchte ihn nicht nur. Sie genoss mittlerweile die ZWeisamkeit mit ihm, in der sie trotzdem sie selbst sein konnte. Meckernd oder nicht, Totfeind ihres Raben hin, oder her. Aris wollte sich nicht ausmalen, Rolan am Wegesrand liegen lassen zu müssen, wie der Leichnam, der er zwar war, in dem sie jedoch mehr Leben, als Tod sah. Und sie vermisste ihre Mutter. Doch das wusste er nicht. Und sie verriet nichts über ihre innere Gefühlswelt. Darin war sie denkbar schlecht, schon immer gewesen. "Ob das mit den Ruinen funktioniert, wissen wir ja auch nicht. Ob wir sie finden, steht auch in den Sternen. Es ist alles zu vage. Ich brauche Sicherheit. Ich muss dieses Buch bekommen." Denn es war nur eins. Eins von dreien. Die anderen Beiden waren in alle Winde verstreut und stellten die nächsten Etappen dar. "Erbrecht, oder nicht. Wenn sie es nicht rausrückt, werde ich immer in diesem Zustand der Erschöpfung leben und du wirst nicht annähernd der Alte werden. Ich meine...das kann dich auch nicht erfüllen. Immer in einem Radius von zehn Metern in meiner Nähe verweilen zu müssen." Sie wischte sich den Schweiss von der Stirn und zupfte an Kragen ihres Hemdes, um etwas Luft an ihre erhitzte Haut zu lassen. Ihr Blick folgte dem ihres Begleiters.
"ich bin total erschöpft, aber wir könnten in den nächsten Stunden ein grosses Stück Weg wieder gut machen. Ich weiss nicht. Vielleicht eine Stunde ruhen, danach weiterlaufen?" Ein Kompromiss. Es krächzte in ihrer Nähe. Otto hockte auf einem abstehenden Ast eines Baumes und durchbohrte mit dem Schnabel den Kadaver eines Eichhörnchens. "Einer von uns hat also für sein Abendessen gesorgt", schmunzelte Aris und blickte zu Rolan zurück, der das Gelände in Augenschein nahm. Sie würde ihn entscheiden lassen, wohin es gehen sollte und wo ihre Rast stattfinden würde.
Als das Feuer, welches sie entzündet hatte, vor sich hin knisterte und seinen Schein flackernd auf ihre Gesichter warf, traf die Wärme sie wie ein Faustschlag und liess sie hinter vorgehaltener Hand lautstark gähnen. Aris streckte sich im Gras unter sich aus und sah in den Himmel. Schon bald würden die Sterne leuchten und einen spektakulären Anblick bieten. Wie sie das liebte... "Hat dir der Hexer den Dolch gegeben?"
Rolan nickte zustimmend, während er das umgebende Gelände musterte.
"In Ordnung. Dann ruhen wir uns direkt hier aus. Solange es hell ist, macht es kaum einen Unterschied, wo wir rasten."
Entgegen seinen Worten, war die gewählte Stelle eine recht gute Verteidigungsposition. Erneut hatten sie eine Böschung erklommen und wussten diese nun direkt in ihrem Rücken. Sowohl Mensch, als auch Tier, würde es schwer haben, ihnen in den Rücken zu fallen und solange noch ein wenig Restlicht den Wald durchflutete, waren auch Gefahren, die von vorne kamen, frühzeitig zu erkennen.
Noch während er ein paar Baumstämme als Sitzgelegenheiten an den Lagerplatz schlörte und Aris geschickt, wie am Tag zuvor auch, das Feuer entzündete, griff Rolan die Themen wieder auf, die sie bisher durchgegangen waren.
"Du sagtest, ohne den Tod kann man das Leben nicht schätzen und zu einem gewissen Grad hast du auch Recht. Weißt du, was danach auf uns wartet? So als Berufsgeheimnis deiner Zunft?"
Sie schüttelte nur stumm den Kopf, was ihn wiederum nicken ließ.
"Dacht' ich mir. Bin ja der erste, der reden kann, hmm?"
Ein kurzes Grinsen, dann wurde er ernst.
"Die Erinnerungen verblassen mit jeder Stunde mehr. Es ist beinahe nur noch ein Gefühl. Ein Instinkt. Aber ohne die Sehnsucht, die ich kurz nach,... der Erweckung gespürt habe. Sofern es nicht nur ein Traum gewesen ist, war der Ort an dem ich mich befunden habe, das Glück pur. Keine Sorgen. Kein Leid. Als wäre man erneut im Leib seiner Mutter."
Er zuckte verlegen mit den Schultern, weil ihm bewusst wurde, was für ein Weichei-Geschwätz er da von sich gab.
"Naja, jedenfalls wird dir wohl jeder mit dem gleichen Erlebnis sagen, dass das Leben einen Rabenschiss wert ist, im Vergleich zu dem, was danach auf uns wartet. Aber vermutlich ist es besser, dass es niemand weiß, denn sonst wäre diese Welt wohl leer und unbewohnt."
Abwehrend hob er die Hände, um mögliche Einwände abzublocken.
"Ich weiß, ich weiß. Sehr zynisch, das ganze. Ich bin nicht gläubig, weißt du? Jeder Gott, der so einen Scheiß, wie diese Welt verzapft und bei all dem Leid nicht mal dazwischen haut, kann sich meiner Meinung nach verpissen. Aber,..."
Er hob einen Zeigefinger, als sei er ein Gelehrter, der gerade eine wichtige Lektion erteilte.
"... sollten doch die Götter an diesem,... Zustand nach dem Tod beteiligt sein, dann sehen sie Selbstmord vielleicht nicht so gerne. Weißt du? Das Leben ist die harte Prüfung und schummeln und eine Abkürzung nehmen, bringt dich nicht an den guten, sondern einen schlechten Ort."
Schmunzelnd schüttelte er den Kopf.
"Verdammte Scheiße,... hätte nie gedacht, dass ein Idiot, wie ich, mal über sowas rumphilosophiert."
Recht gemütlich auf seinem Beumstamm sitzend, machte er den Proviantbeutel von seiner Seite los und reichte ihn an die Nekromantin weiter, die gerade mit dem Feuer fertig war und sich ebenfalls daran setzte.
"Vielleicht wäre es auch gar nicht so schlecht, wenn ich nicht der 'alte' Rolan werden könnte. Hab' in meinem Leben viele Dinge gemacht, auf die ich nich' stolz bin. Und überhaupt nichts AUS meinem Leben gemacht. Dies hier,..."
Er machte eine ausladende Geste, die Aris und das Lagerfeuer mit einschloss. Otto war nirgends zu sehen. Vermutlich verputzte er noch immer den Rest seiner Beute und würde erst später zu einem Verdauungsschläfchen auf die Schulter seines Frauchens zurück kehren.
"Dies ist am Ende vielleicht gar nicht so schlecht. Zumindest tu' ich mal was Gutes? Vermutlich? Ok, ok,..." lachte er auf. "Eine alte Dame zu beklauen oder sie zu bedrohen, mag vielleicht nicht unbedingt Beliebtheitspreise einbringen, aber dich am Leben zu halten, klingt für den Anfang nicht unbedingt schlecht."
Mit mahnendem Zeigefinger deutete er auf seine schlanke Begleiterin.
"Bild' dir darauf bloß nix ein, klar? Ich will dich trotzdem noch schnellstmöglich loswerden."
Der Tonfall machte allerdings klar, dass mehr Scherz und nur eine Prise Ernst in seinen Worten lag.
"Wenn wir an der Entfernung arbeiten können und ich nicht immer so tun muss, als würde ich peinlich berührt wegschauen, wenn du mal wieder in die Büsche musst, dann wäre das schon ein großer Fortschritt."
Das erinnerte ihn daran, dass er bisher noch nicht den Drang verspürt hatte, pinkeln zu müssen. Bei dem Durst, den er fortwährend empfand, war das auch wohl kein Wunder. Er hoffte nur, dass er nicht irgendwann gelb anlaufen würde. Oder wie auch immer diese Stoffwechsel-Geschichte sonst funktionierte.
Aris wechselte nach dem kurzen Mahl ihre Position vom Baumstamm zum flachen Gras und machte es sich darin gemütlich. Den sehnsüchtigen Blick in ihren Augen, die zum Himmel gerichtet waren, konnte Rolan sogar halbwegs deuten. Auch er musste in seiner Jugend so drein geschaut haben, wenn er sich nachts auf das Dach der elterlichen Scheune geschlichen, die Sterne beobachtet und sich gefragt hatte, was da oben wohl war.
Aus seinen Gedanken gerissen blickte er auf den angesprochenen Dolch, der noch seitlich im Hosenbund steckte. Tatsächlich hatte er die Haut ein wenig abgeschürft, wie der Untote seufzend feststellte. Später, wenn Aris schlief, würde er sich aus Holz und Ranken ein provisorisches Halfter schnitzen. Mit der Scheide konnte er auch gleich hier und jetzt anfangen, entschied er und nahm ein größeres Stück Holz vom Vorratshaufen, den sie für das Feuer angelegt hatten. Eigentlich viel zu viel für nur eine Stunde, aber irgendwie wussten sie beide, dass sie heute wohl nicht mehr weiter gehen würden.
"Aye,... mit ein Grund, warum ich so erstaunt über unsere Begegnungen in Ferneck war. Niemand gibt in dieser Welt einem Fremden etwas umsonst. Und wir haben Proviant, guten Rat und eine Waffe erhalten. Letztere sogar von einem Hexer, denen man Geschichten nachsagt, die,... naja, du kennst sicher viele davon auch. Meist werden sie nicht viel besser, als die Monster dargestellt, die sie eigentlich jagen."
Er begann damit, an dem Holz herum zu schnitzen. Ohne Wetzstein war es eigentlich eine dumme Idee, den Dolch jetzt schon stumpf zu machen, aber abseits von der Notwendigkeit einer Scheide, - er schmunzelte bei dem Gedanken an diese Zweideutigkeit - brauchte Rolan auch etwas zu tun. Vielleicht auch nur, damit er sich von normalen Leichen unterschied, die nicht mehr wirklich viel taten.
"Sag mal,... und sei bitte ehrlich,..." murmelte er leise, ohne den Blick von seinem Schnitzwerk abzuwenden.
"Warum hast du mich wirklich erweckt? Ohne mich hättest du keine Zeitnot gehabt und hättest noch die Monate warten können, bis deine Großmutter den Löffel abgibt. Dass wir uns jetzt beeilen müssen, leuchtet mir ein, aber warum hast du es in erster Linie getan?"
Kleine und große Holzspäne landeten mit einem Zischen in dem eh schon gemütlich knackenden Lagerfeuer. Und in diesem Moment verspürte Rolan doch eine gewisse Art von Sehnsucht nach dem Leben. Das wohlige Wärmegefühl. Die Müdigkeit, die einen überkam, wenn das Feuer einen mit dem beruhigenden Knacken einlullte. All das verspürte er nicht mehr und es war dieser Mangel, den er als Leere in sich empfand, die dem Magen eines Verhungernden glich. Er fühlte noch, aber nicht mehr genug.
"Du hast gestern Nacht, im Halbschlaf etwas gesagt. Dass du immerzu Angst hast. Und ich vermute, du meintest meine Erweckung und meinen Schutz, wenn du sagst, dass die Angst damit endlich ein Ende haben soll."
Er unterbrach sein Handwerk und blickte zwar ernst, aber freundlich zu Aris herüber.
"Wovor hast du Angst, Aris?"
Der fast schon kameradschaftliche Moment wurde natürlich rüde unterbrochen, als mit einem Klatschen ein hauptsächlich weißer, großer Fleck auf Rolans Schulter landete und Spritzer davon noch in alle Richtungen stoben. Nach einer Ehrenrunde landete Otto dann neben Aris im Gras und hüpfte auf ihren Bauch, um es sich dort gemütlich zu machen. Er blickte ganz selbstzufrieden drein, wenn man einem Tier solch eine Emotion zuschreiben konnte."
Rolan seufzte ärgerlich und warf aufgebracht die Hände in die Luft.
"Ernsthaft jetzt?! Das ist deine Vorstellung von Waffenstillstand, du Mistvieh?!"
Der Rabe klapperte mit dem noch blutigen Schnabel in die Richtung des Untoten, als wollte er ihn auf höhnische Weise auslachen.
Aris nickte zustimmend, denn Rolan war fürwahr der Erste, der sprach. "Und noch so viel gleich dazu", murmelte sie vor sich hin und schmunzelte. Doch das Lachen verging ihr, als ihr Begleiter tiefgründig wurde. Obendrein war es für Aris natürlich auch interessant, was nach dem Ableben einer Person geschah. "Du sprichst davon, als sei der Tod die Belohnung für das Leben." Ihre Gedanken drifteten ab. War es für ihre Mutter genau in diesem Moment auch so? Und war Aris mit ihrem Vorhaben im Begriff, sie ihrer warmen und wohligen, mutterleibsartigen Ruhe zu entreissen? Ihr ungleiches Augenpaar heftete sich auf Rolan. Was, wenn ihre Mutter ihr, nach der Erweckung, auch Vorwürfe machen würde, so wie Rolan es tat? Wenn sie ihren Platz im Leben nicht mehr zu finden vermochte?
Gerade als sie im Begriff war, in düstere Gedanken und Selbstzweifel zu verfallen, riss Igor sie heraus, ganz ohne es zu wissen.
Doch das Thema war für sie ebenso wenig Erbaulich, als der Gedanke an das, was mit der Seele nach dem Tode geschah.
Aris strich sich das weissblonde Haar zurück, nachdem sie sich aufgesetzt hatte und starrte in die Flammen. Früher hatte sie mit ihrer Mutter immer ein Spiel gespielt, wann immer sie an ihrer Feuerstelle gesessen, oder gekocht hatten. Was sah man in den Flammen? Und liess sich aus den Bildern eine schicksalshafte Geschichte spinnen?
Rolans Fragen blieben in der stillen Nacht hängen, die unlängst aufgezogen war und eine beruhigende Schwärze mit sich gebracht hatte. Sie würden heute keinen Schritt mehr tun. Aris war es recht. Ihre Füsse schmerzten und die Ereignisse des Tages hatten sie erschöpft.
"Männer sind widerlich." Rolans Augen glitten zu ihr. In ihnen lag ein Vorwurf. Beschwichtigend hob Aris die Hände. "Nicht alle. Aber gegenüber wehrlosen Frauen? Die Meisten." Die Weissblonde stierte zurück ins Feuer. "Sie kamen nachts. Immer war es nachts. Nicht, dass der Tag sie aufgehalten hätte, doch das Licht bot mir Möglichkeiten, ihnen zu entkommen. Und sei es, mich als eine Bauerstochter auf dem Feld auszugeben, die nicht weit von ihrem Elternhaus entfernt, Rüben zieht...aber nachts, wenn ich alleine war, da waren diese Kerle besonders mutig." Sie zog die Knie enger an den schmalen Brustkorb. "Sie genossen meine Unterlegenheit. Und fürchteten nicht, was sie sonst so verurteilten. Eine Nekromantin, ehe Hexe vielleicht. Ihnen gefiel der Gedanke, ein junges Ding zu schänden. Mich betteln und bitten zu hören. Mein Flehen, mein Weinen. Sie waren zu fünft. Und sie quälten auch Otto." Kurz verengte sich ihre Kehle ganz so, als säße ihr Kopf in einer Schlinge, die sich mit jedem Wort fester zuzurrte."Ich glaube, dass er seitdem noch mehr Angst vor Fremden hat. Er wollte mich beschützen, das dumme Ding..." Und trotzdem rechnete sie ihm seinen Heldenmut hoch an. so ein kleiner Vogel hatte es mit fünf erwachsenen Männern aufnehmen wollen. "Wie ich ihnen entkam, weiss ich nicht mehr und ich will mich auch nicht erinnern. Es war knapp und sie hatten ihr Ziel auch nicht erreicht." Aber das mussten sie auch nicht, um Aris eine Heidenangst einzujagen. "am nächsten Morgen beschloss ich, einen Mann an meiner Seite haben zu wollen. Einen, der Erfahrung im Kämpfen hat und mich beschützen kann, wenn mir wieder solche...Scheusale zu nahe kommen wollen." Ihre Schultern zuckten ratlos. "Ich weiss, das macht dein erzwungenes zweites Leben sicher nicht besser. Aber so war es. Das ist die ganze Wahrheit. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es so gut funktionieren würde. Dass du so naja...DU sein würdest." Aris hatte in ihrer Unerfahrenheit mehr einen sabbernden, leise stöhnende Laute von sich gebenden Zombie erwartet, der brav hinter ihr her trottete und alles wegmetzelte, was sich ihr in den Weg stellte. Es war anders gekommen. naja...partiell anders.
Es war Otto, der diese ernste und intensive Situation gleichermaßen rettete, als auch zerstörte. Sein grosser weisser Schiss landete direkt auf Rolans Schulter und brachte Aris dazu, ein gackerndes Lachen auszustossen, welches jeder wahren Hexe Konkurrenz gemacht hätte.Als sie ihren schrägen Ton der eigenen Stimme bemerkte, musste sie darüber nur noch mehr lachen. Otto gesellte sich zu seinem Frauchen auf die Schulter und säuberte sich den Schnabel, wie er es immer tat, wenn er mit einer Mahlzeit fertig war. "Hey du schwarzer Adler, du sollst doch nett zu Igor sein. Hm?Oder bist du etwa eifersüchtig?" so weit hergeholt war diese Theorie nicht, war sie doch seit der Rabe auf der Welt war, immer nur mit ihm allein gewesen. Otto klapperte nur leise mit dem Schnabel und huschte unter den Vorhang weisser Haare. Die Nekromantin drehte sich seufzend zu Rolan um. "Es tut mir leid. Er ist wirklich ein Goldschatz, ich wünschte, das könnte er dir irgendwie zeigen. Aber er hat es nicht so damit, seine guten Seiten zu offenbaren." Da hob sie eine Augenbraue, als ihr ein Gedanke kam. "Das habt ihr beiden glaub ich gemeinsam. Die Harte Schale und den weichen Kern darunter hm?"
Er redete viel. Auch wenn Aris dies eher als scherzhaften Seitenhieb meinte, so fand Rolan, dass sie Recht hatte. So viel und so,... hochtrabend, hatte er noch nie mit jemandem gesprochen. Dabei war es aber nicht so, dass sein untotes Dasein ihn schlauer oder redseliger gemacht hatte. War es ihre Gesellschaft, die ihn dazu animierte? Mit anderen Knechten in der Unterkunft oder seinen Kameraden in einem Feldlager, waren die hochgestochensten Gespräche, wie man sich am besten die Blasen an den Füßen entleeren konnte, ohne eine Entzündung zu kriegen. Vielleicht war Rolan schon immer unterfordert gewesen. Hätte er es in einem anderen Beruf wohl weit gebracht? Wahrscheinlich nicht. Rechnen und Lesen konnte er nur rudimentär. Und auch das Wort rudimentär hätte er wohl nicht zu übersetzen gewusst. Aber die Straßen- und Bauernschläue, die er in die Wiege gelegt bekommen hatte, ließen ihn durchaus in einer Menge aus simplen Soldaten oder Landarbeitern herausstechen.
"Männer sind widerlich." gab er mit einem ernsten Nicken zu, während er weiter ihrer grimmigen Geschichte lauschte. Die Holzspäne wurden unterdessen immer größer und grober, als die Wut in ihm aufstieg. Als Aris geendet hatte, schwieg er für eine Weile, bevor er seine Meinung dazu preis gab.
"Ich sagte ja, die Welt sei schlecht. Vermutlich passiert so etwas in diesem Moment hunderten anderer Frauen. Es ist nicht fair und es ist widerlich, da gebe ich dir Recht. Ich mag am Ende vom rechten Weg abgekommen sein. Der Hunger und die Verzweiflung können Dinge mit einem anstellen, vor denen man sich verkriechen würde, sähe man direkt danach seine Reflektion in einer Wasserpfütze. Aber eine Frau gegen ihren Willen zu nehmen,..."
Er schüttelte angewidert den Kopf und blickte dann zu Otto hinüber. Für einen Moment war der Schiss vergessen und es war nur zu klar, dass der Untote diesen nicht meinte, sondern dessen Beschützerrolle, als er sagte:
"Gut gemacht, Mistvieh!"
Allerdings sprach Aris dann das Werk des Raben an. Rolan zuckte mit den Schultern, verzog das Gesicht und riss ein Wenig Gras aus, dass neben dem Baumstumpf aus dem Boden ragte.
"Schon gut,... ist ja nur ein wenig Vogeldreck."
Wenig? Auch hier hätte Otto einem Greifen alle Ehre gemacht. Der Fleck auf seiner Schulter hatte bestimmt die Größe einer Kinderhand. Exclusive der Schrapnellwirkung! Leise vor sich hin grummelnd, wischte Rolan mit dem Büschel Gras an dem Schiss herum.
"Harte Schale, weicher Kern." schnaubte er belustigt nachäffend zum Kommentar der Nekromantin.
"Nur weil ich hier philosophiere und Süßholz raspel, habe ich noch lange keinen weichen Kern!"
Er deutete mit dem dreckbeschmierten Grasbüschel in Aris Richtung.
"Ich glaube auch nicht, dass Du mich auf der Schulter sitzen haben willst, geschweige denn, dass ich dort einen abseile, oder?"
Kurz lachte er dreckig, ob seines Scherzes und dem Versuch, wieder den rauhbeinigen Söldner zu mimen. Doch wenn Rolan ehrlich und von Herzen lachte, dann sah man durchaus den Weichen Kern in ihm zum Leben erwachen. Was bei einem Untoten recht verzwickt erschien, wenn man genauer darüber nachdachte. Lange dauerte seine Belustigung auch nicht an, denn schon nach wenigen Momenten wurden Stimme und Blick wieder ernst, als er erneut an seine Lage erinnert wurde.
"Vielleicht ist das alles hier die Strafe für die schlechten Dinge in meinem Leben."
Erneut gestikulierte er mit beiden Händen, um das Lager, Aris und den Raben einzufangen. Dass dabei Vogelscheiße von dem Gras in seiner Hand troff, minderte den dramatischen Effekt aber dezent.
"Eine Art, sie wieder gut zu machen. Die Kerle, die Frauen missbrauchen, kommen direkt in die Hölle. Die, die wie ich, nicht alle Grenzen überschreiten, bekommen nach dem Tod noch eine Aufgabe. Und je nachdem, wie gut sie sie abschließen, erarbeiten sie sich das Recht, ein schönes Leben nach dem Tod zu führen. Der,... Traum,... oder der kurze Aufenthalt dort, war vielleicht nur eine Art Vorgeschmack. Eine Lockung, um einen nicht vom Weg abkommen zu lassen."
Wieder lachte er leise. Dieses Mal allerdings eher verzweifelt, als belustigt.
"Also,... ich werd' alles tun, um dich zu beschützen. Bild' dir auch da nix drauf ein! Es ist nur eine Art Deal, klar?"
Erneut waren diese harten Worte nicht hundertprozentig so gemeint, wie er sie aussprach. Jemand mit guter Menschenkenntnis, hätte wohl an ihnen erkannt, dass auch Rolan langsam die Gesellschaft von Aris und ihrem Raben genoss. Die von letzterem vermutlich nur, weil es eine Art Herausforderung war.
"Ein Deal, um meine Schulden abzuarbeiten."
Sie wollte also zuvor lieber einen willenlosen Zombie haben. Einen Diener, der sie ohne Murren beschützen konnte. Ohne Widerworte und ohne Geist und Verstand. So etwas hatte sie zuvor schon einmal angedeutet. Dass Rolan eine Art zu gut gelaufenes Experiment gewesen war. Wie sollte er sich diesbezüglich nun fühlen? Glücklich? Geehrt? Missbraucht?
"Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich als willenloses Stück, verrotteten Fleisches auferstanden wäre? Warst du enttäuscht, dass ich meinen eigenen Geist noch hatte? Fähig war, eigene Entscheidungen zu treffen?"
Er grinste breit und ging völlig im Klugscheißermodus auf.
"Mal abgesehen davon, wie du über mich und meine nervige Selbstständigkeit denkst. Vermutlich ist es auch eine Art Glücksgriff für dich gewesen. Ich glaube nicht, dass du mit einem offensichtlichen Schlurfer weit in einem Dorf oder einer Stadt kommen würdest, bevor die Leute Fackeln und Mistgabeln schwingen."
Seine Miene verfinsterte sich. Grundsätzlich hatte er das Gefühl, im Gespräch mit der Nekromantin alle paar Sekunden von seinem üblichen Großmaul zu ernstem Philosoph und wieder zurück zu wechseln.
"Ist sie so gestorben? Deine Mutter? Sie war auch Nekromantin, wenn du sagst, dass sie nie dieses Buch bekommen hat?"
Ob sie es wollte oder nicht, so sprach Rolan in diesem Moment ihren wohlgehüteten Humor an, den sie niemals, wirklich NIEMALS NIE offenbarte. Weswegen sie erneut zu gackern begann, unfähig, sich noch länger zurück zu halten. Das war eben der Vorteil, wenn man es mit niemandem zu tun hatte und die Einsamkeit bevorzugte. Niemand kannte einen, ausser man selbst und man lief nicht Gefahr, sich irgendwann nicht mehr verstellen zu können. Die Vorstellung, den Wiedererweckten auf der Schulter hocken zu haben, erzeugte ein so schräges Bild in Aris Kopf, dass diese aus dem Lachen gar nicht mehr raus kam. "Bitte keine Schulterwürste heute." Nun lachte sie schallend, ganz gleich, wer sie hören konnte und sie dann auf dem nächsten Scheiterhaufen anzünden würde. Doch ihre gute Laune verflog schnell und wich wieder der sonstigen Ernsthaftigkeit, die die Nekromantin sonst so inflationär an den Tag legte.
"Also bin ICH die Strafe für deine Vergehen? Unsere Gesellschaft?" Aris deutete auf die Beule unter ihrem Haar, unter der sich Otto befand und seinem Schläfchen frönte.
Sie zog die Nase kraus, als er sie so direkt auf seine Erscheinung ansprach und darauf, ob sie mit sich und ihrem Werk, mit IHM zufrieden war. "naja..." Aris liess den Blick über Rolan schweifen. "N bisschen hübscher hättest du ja sein können." Irgendwie konnte sie den Schalk im Nacken gerade nicht abschütteln. So folgte dem Schnaufen des Toten nur ein weiterer Gluckser der weissblonden Frau, die die Hände gen Feuerschein hielt, um sich zu wärmen. "Ich habe nicht mal damit gerechnet, so weit zu kommen. Dass du auferstanden bist, war....Glück. Ein Zufallsfunke meines Könnens, denke ich. Ich wollte nur...nicht mehr allein sein." Der letzte Teil des Satzes war gemurmelt. Halb geflüstert. Eine Wahrheit., die sie nicht gerne Preis gab. Niemand suchte die Nähe eines Nekromanten. Sobald raus kam, wer sie war, oder wer ihre Mutter gewesen war, nahmen die Menschen die Beine in die Hand und sahen nach dreimaligem Spucken auf den Boden zu ihren Füssen zu, dass sie da Weite suchten. Aris war trotz ihrer Vorliebe für das Alleinesein , immer noch ein Mensch. Und Menschen waren gesellig. Niemand konnte für immer nur für sich sein, ohne dabei verrückt zu werden. Oder mit einem Raben zu sprechen...so oder so, es tat gut, Rolan bei sich zu haben. Selbst wenn sie dabei einander hauptsächlich auf die Nerven gingen.
"ABER!" Ihr Zeigefinger hob sich belehrend in die Luft, "Ohne zu murren ja...das wäre vorbildlich." Ihre Mundwinkel zuckten. So wenig, wie es in ihrer Natur lag, das letzte Wort nicht an sich zu reissen, so wenig würde Rolan aufhören, über sich, sein Schicksal und seine neue Aufgabe zu meckern. Das war eben...er. Und ER kam ohne Scham auf ihre Mutter zu sprechen. Aris versteifte sich sichtlich. "Sie starb an einer Krankheit. Ich weiss nicht, was es war. Es ging schnell. Es war schlimm. Sie litt sehr, auch wenn sie es nicht lang siechen musste." Doch Aris hatte zusehen müssen und würde diese Bilder und das Elend darin niemals aus dem Gedächtnis brennen können. "Sie war Nekromantin. In unseren Kreisen kannte man sie. Wusste um ihre Macht." Jeder Nekromant sog den Namen Jenniker Moriturus mit der Muttermilch auf. Und man kannte auch Aris. Als die vielversprechende Nachfahrin, die Erbin dieser grossen Macht und der Verantwortung, die solch eine Gabe mit sich brachte. Doch ihre Mutter hatte sie mit Samthandschuhen angefasst, hatte weder Druck ausgeübt, noch damit gerechnet, dass die Zeit mit ihrer eigenen Tochter begrenzt war. Und so hatte Aris zwar viel Talent und Kraft in sich, doch wenig Erfahrung und Übung. Das machte ihr Unterfangen natürlich schwierig. Und die Nekromanten der Welt waren nicht so zahlreich, als dass sie einfach so bei dem nächsten Nachbarn in die Lehre gehen konnte, um sich anzueignen, was sie brauchte, um ebenso gefürchtet zu sein, wie Jenniker es gewesen war. "Sie hat mit meiner Grossmutter gebrochen, als ich noch ein Säugling war. Die Frauen meiner Blutlinie sind nicht der mütterliche Typ. Naja. Bis auf Meine. Sie hat es anders gemacht und stiess damit auf Ablehnung. Nicht alles an ihr hatte sich der schwarzen Magie verschrieben." Da fiel Aris etwas ein. "Sag mal Rolan, als ich nach deiner Seele tastete, da hast du dich gewehrt, du hast dich mir versucht, zu entziehen, wie ein...ein Fisch, den man im Wasser versucht, mit bloßen Händen zu fangen. Weisst du davon noch etwas?" Denn erst nach einigen Anläufen und grosser Anstrengung hatte Aris es geschafft, Rolans Geist einzufangen und ihn seinem Körper zurück zu geben.
Wind kam auf und liess das entfachte Feuer kurz flackern, als wolle es erlöschen. Doch kaum war die Boe vorrüber, stiegen die Flammen bereits erneut empor und schufen einen warmen Ort in kalter Nacht. Otto drehte sich auf Aris Schulter und schob verschlafen den langen schwarzen Schnabel durch die Haare. Es sah aus, als habe er sich Aris weisse Haarpracht geborgt und das liess die junge Frau erneut albern aufquieken. Sie umfasste den Schnabel und zog sanft daran, ehe sie schnell die Finger wegzog, als Otto auch schon nach ihr hacken wollte. "ich habe immer mit dem Gedanken gespielt, Otto zurück zu holen, wenn er stirbt. Doch nach alledem, was du so erzählst...über das, was ihn erwartet, sollte ich wohl von meinem Vorhaben ablassen. Gesetz den Fall, dass es für Tiere so einen Zustand auch gibt. " Aris dachte egoistisch. "Ich denke, Nekromanten sind schlecht in Trauer und im Loslassen, wenn man es mal so betrachtet." otto zu verlieren, würde ihr nicht nur schmerzen, es würde sie in zwei Teile reissen. Angst engte ihr das Herz in der Brust zusammen. Schnell atmete sie durch. Noch war es nicht soweit. Sie hatte Zeit..oder? War es nicht auch der Trugschluss ihrer eigenen Mutter gewesen, der sie nun trösten sollte?
"Schulter,... Würste,..." wiederholte Rolan ganz trocken und sachlich. Eine Augenbraue hob er dabei verwundert in Richtung der Nekromantin, der er solch einen rauen Humor gar nicht zugetraut hatte. Er versuchte krampfhaft, sich seine Belustigung nicht anmerken zu lassen, doch schon bald zitterten seine Lippen, gefolgt vom ersten Prusten. Dann brachen die Dämme und sein Gelächter hallte durch den Wald und wurde noch verstärkt von der Böschung zurückgeworfen, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Otto lugte, durch den plötzlichen Krach verunsichert, unter der Haarpracht seines Frauchens her und beäugte den Untoten mit einer für ein Tier unmöglichen Skepsis. Rolan bildete sich sogar ein, auch beim Raben eine nicht existente aber dennoch kritisch erhobene Augenbraue zu sehen.
"Schulterwürste!" keuchte er zwischen dem Gelächter. "Den kannte ich auch noch nicht und das soll bei meiner Vergangenheit schon was heißen. Aber...!" Er hob einen Finger in die Höhe, bekam aber das Grinsen nicht aus dem Gesicht. "Nur heute nicht, was? Dann solltest du wohl langsam wieder meine Verdauung ans Laufen kriegen."
Mit einem klatschenden Geräusch schlug er sich fest auf die Schenkel. Das war genau seine Art von Humor. Wobei er nicht gedacht hätte, diesen jemals außerhalb eines Söldner- oder Banditenlagers anzutreffen. Schon gar nicht bei einer Frau. Ein wenig getrübt wurde seine Stimmung nur durch die Tatsache, dass er seine eigenen Schenkelklopfer kaum spürte, da seine Schmerzrezeptoren nicht funktionierten. Einen Schenkelklopfer, der nicht ordentlich zog, konnte man doch total vergessen!
Als er sich wieder einigermaßen eingekriegt hatte, beantwortete er ihre Frage zu seiner laienhaften, philosophischen These.
"Nuuuun,..." begann er, wollte aber die gute Stimmung nicht völlig zerstören. "Strafe ist so ein harsches Wort, findest du nicht? Wie wäre es mit Herausforderung? Mir wurde die herausfordernde Aufgabe zugeteilt, mit dir und deinem Vogel klar zu kommen. Achja,... und deinem Raben." Kurz hatte Rolan den Drang, ihr aufgrund des Seitenhiebs die Zunge heraus zu strecken, da auch ihm der Schalk im Nacken saß. Aber sowas wäre total unmännlich, ja sogar regelrecht kindisch gewesen. Also begnügte er sich mit einem, so wie er hoffte, frechen Zwinkern.
Dieses wiederholte er sogleich gespielt kokett und wand sich, mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Platz, wie ein Schönling, der gerade von einem Maler portraitiert wurde.
"Jetzt sag' nich', ich gefalle dir nicht."
Aus der sitzenden Position, ließ er sich in die Seitenlage zu Boden gleiten und stützte seinen Kopf völlig leger auf eine Handfläche.
"Da wärst du aber die erste." behauptete er großkotzig und grinste breit.
Nun, zumindest zu seinen Lebzeiten hatte er kein Problem gehabt, das holde Geschlecht um den Finger zu wickeln. Bei einem feucht fröhlichen Abend in einer Taverne musste er, im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden, nur selten für ein Spiel zwischen den Laken bezahlen. Meist fand sich doch eine interessierte Schankmagd oder Bauerstochter, die einen hübschen Mann zu schätzen wusste. Vielleicht war Rolan kein Kerl, der für die Statuen der Adeligen posieren würde. Aber seine männliche Rauheit sorgte für Abenteuerlust unter den Frauen. Scherzhaft hatten ihn die Kameraden deshalb des öfteren mit einem Hexer verglichen, da er oft schon im nächsten Ort bereits die nächste Frau am Haken hatte. Nicht selten resultierte dies in Schlägereien, wenn der zornige Ehemann am nächsten Tag das Lager aufsuchte, um seine Ehre wiederherzustellen. Selten mit Erfolg. Ein Bauer legte sich doch nicht mit einem trainierten Söldner an. Aber so weit dachten die betrogenen Kerle meist gar nicht.
Er beendete die Scharade des lüsternen Sexobjekts und setzte sich wieder auf seinen Baumstamm. Ihr genuscheltes Eingeständnis, nicht mehr allein sein zu wollen, quittierte er mit einem Nicken.
"Nun, allein musst du vorerst nicht mehr sein. Aber ich soll dich begleiten, ohne über mein Schicksal zu klagen?"
Gespielt überrascht legte er sich die Hand auf die Stelle, wo sein Herz viel zu langsam für einen normalen Menschen schlug.
"Wie soll das denn gehen? Eher wachsen dir Flügel, dass du mit Otto zusammen auf die Jagd fliegen kannst."
Belustigt schüttelte er den Kopf.
"Sowas aber auch. Du kannst vielleicht Tote zum Leben erwecken, aber DAS,... ist völlig unmöglich!"
Dann flachte die Stimmung deutlich ab, als er nach ihrer Mutter fragte und sie ihm Antwort gab. Er lauschte höflich. Allerdings nur mit halbem Interesse, da die Geschichte um ihren Tod eine war, die man schon tausende Male gehört hatte. Krankheiten oder Seuchen waren auf dem Kontinent, und gerade immer dort, wo Krieg herrschte, an der Tagesordnung. Von diesen nekromantischen Machtspielen und Hierarchien wusste er absolut nichts, also schwieg er einfach.
Kurz fragte er sich, wieso Aris nicht ihre Mutter anstatt ihn wiederbelebt hatte und wusste gar nicht darum, wie nah er der zukünftigen Wahrheit damit eigentlich kam. Aber letztendlich fügte er die vorherigen Worte der Nekromantin zusammen und sah das Problem an der Sache. Wenn sie bei ihm schon damit gerechnet hatte, dass er als sabbernder Schlurfer zurückkehrte, so würde sie dieses Risiko bestimmt nicht bei einer geliebten Person eingehen wollen. Sie hatte ja schon bei dem Raben ihre Zweifel.
...
Und hatte es bei ihm,... Rolan,... trotzdem getan. Was sagte das nun über ihn aus? Dass er weniger wert war, als eine Ratte der Schlachtfelder? Vielen Dank auch!
"Hmm,..." machte er. "Ich hab' echt keine Ahnung von diesem ganzen Kram. Wenn sich meine Seele,... und es wundert mich, dass ich nach meinen Taten im Leben noch eine habe,... gewehrt hatte, dann wahrscheinlich wegen der Geschichte, die ich dir erzählt habe. Dass das, was danach kommt, so friedlich und schön ist, dass man dort nicht wieder fort möchte. So muss sich ein Neugeborenes fühlen, welches die Natur während der Geburt der bahaglichen Sicherheit des Mutterleibs beraubt. Die schreien bestimmt auch nur, weil sie gar nicht erst raus wollen."
Auch er richtete seine Hände gen Feuer. Eine instinktive Handlung, wie er es schon hunderte Male getan hatte. Doch spürte er die Wärme des Elements nicht mehr, was ihn kurz ein wenig traurig machte. Es war schon irgendwie seltsam. Man erzählte sich all die Gruselgeschichten, wie man Untote am besten mit Feuer erledigte. Sollten diese dann nicht Angst oder zumindest Unbehagen in der Nähe von Flammen empfinden? Die Methode, die auch einen Wiedergänger effizient erledigen kann? Stattdessen sehnte er sich nach der Wärme und Geborgenheit dieses Lagerfeuers, welches es ihm aber nicht mehr geben konnte.
"Aber vielleicht war auch alles nur ein Traum und nach dem Tode gibt es gar nichts. Vielleicht ist es diese Dehnung der Zeit, die man in Träumen verspürt. Weißt du, was ich meine? Du träumst von einem ganzen Tag, dabei hast du nur wenige Stunden geschlafen."
Er zuckte mit den Schultern und war ein wenig enttäuscht, dass seine anfängliche Motivation, wieder an diesen utopischen Ort zu gelangen, langsam versiegte.
"Vielleicht hat mir mein Hirn nur Dinge gezeigt, die mir gefielen, als der Strang mich erstickte. So 'ne Schutzfunktion des Körpers, damit er ruhig bleibt, oder so? Keine Ahnung. Bin kein Gelehrter."
Grimmig ins Feuer starrend, nahm er sein Schnitzhandwerk wieder auf. Span um Span landete knisternd im Feuer.
"Wenn dort allerdings nichts sein sollte,... dann gibt es weder im Diesseits, noch im Jenseits etwas für mich."
Eine grausame Vorstellung. Doch wenn er ehrlich war, so hatte er doch jetzt etwas. Die Gesellschaft der Nekromantin war vielleicht manchmal stressig und von Streit geprägt. Aber alles in Allem genoss er ihre Gegenwart. Die des Raben,... nun,... wenn Rolan diesen mal ordentlich gerupft hatte, würde der sicher auch ruhiger werden.
Er atmete laut hörbar tief ein und wieder aus. Diese ernsten Themen bedrückten ihn irgendwie. Zumindest die, die seine eigene Zukunft betrafen. Zeit, das Thema zu wechseln.
"Hast du noch weitere Familie, außer deine Großmutter? Geschwister? Meine Eltern könnten sogar noch leben. Und zwei Brüder habe oder hatte ich. Ich habe sie schon ewig nicht mehr gesehen."
Die Umstände, warum er sein Elternhaus nicht mehr aufsuchte, ließ er dabei aber lieber offen. Es war jetzt nichts, was besonders peinlich oder seltsam war. Eine Geschichte von vielen. Ein Schicksal, welches sich abertausende von Menschen teilten. Aber das machte die Erinnerungen und Schuldgefühle nicht besser.
Er deutete mit der Dolchspitze auf Aris und schnippte nebenbei mit dem Daumen einen weiteren Span ins Feuer.
"Und warum bist du nie sesshaft geworden? Ist diese Nekromantie und das ganze Bücherwissen so viel reizvoller, als eine eigene Familie? Ohne das Erbe dieser,... Zunft anzutreten, wüsste doch auch niemand außerhalb dieser davon. Ich zumindest habe noch nie von irgendwelchen Nekromantenfamilien gehört."
Die neue Erkenntnis, dass man mit diesem untoten Mann auch ernsthafte und durchaus tiefgründige Gespräche führen konnte, gefiel der kleinen weissblonden Frau wohl mehr, als es sollte. "Es gibt Mythen, die besagen, dass das Weinen eines Babys bei der Geburt eigentlich das Weinen über den Tod ihres vergangenen Lebens ist. Du könntest mit deiner These also gar nicht so verkehrt liegen Rolan."
Überrascht sah sie von dem Feuerschein auf, dessen Tanz der Flammen sie immer zu hypnotisieren schien, ganz egal, wann sie auch immer in das Flackern blickte. Ihr Begleiter begann, sich für ihre Lebensgeschichte zu interessieren. Eigentlich wollte sie niemandem was davon erzählen. Keine Wahrheiten über sich selbst Preis geben. Sich damit nicht angreifbar machen. Es gab doch Regeln. Ihre eigene Mutter hatte sie ihr wieder und wieder eingebläut. EIGENTLICH. Dagegen hielt die Stimme in ihrem Kopf, dass es auf der Welt nur Rolan selbst sein konnte, dem sie entgegen aller Regeln etwas von sich erzählte. Weil sie ihn erweckt hatte. Weil er ihr damit näher stand, als jeder Andere auf der Welt. Und genau genommen wusste er doch eh ihr grösstes Geheimnis. Und verdankte diesem Umstand sein zweites Leben.
"Wie kommst du darauf, dass ich nicht sesshaft war? Ich hatte vielleicht keinen traditionellen Ehemann und keine Kinder, aber ich lebte mit meiner Mutter zusammen. Wir...hatten da eben so eine Art Geschäft. Es ist nicht so, dass es massenweise Nekromanten gibt. Jedenfalls kenne ich nur sehr wenige. Um solch eine Magie erfolgreich zu wirken, braucht es viel Training und Macht." Eine Macht, vond er sie niemals vermutet hätte, sie zu besitzen. Es war wie bereits gesagt ein Geschäft. Ein zwielichtiges und nicht gerade gern gesehenes. Dabei hätten sie dem Recht und Unrecht dienlich sein können, welches zu vielen Todesfällen geführt hatte. "Zu einer Familiengründung gehört auch ein Gegenpart. Und den...gab es eben nicht. Zu viel Auswahl", endete sie scherzend. "Aber wer weiss, vielleicht läuft ja eine Miniversion von dir da draussen herum, was?" Und wenn dem so wäre, würde sie es verstehen. Aris war selbst nie ein Kind von Traurigkeit gewesen. Doch es hatte niemals den Moment gegeben, in dem sie sich hatte festlegen wollen. Immer hatte etwas gefehlt, nicht gepasst. Der Funke, dieser berühmte verdammte Funke, war niemals übergesprungen. Und am Ende musste jemand, der mit einer Frau wie ihr zusammen sein wollte, mit einer Frau, die eine Gabe wie sie hatte, auch damit zurecht kommen, zu was sie fähig war.
"Keine Geschwister." Aber ER hatte welche. Scheinbar funktionierte seine Erinnerung sehr gut. Aris hob die Augenbrauen. "Leben sie in der Nähe? Wir könnten sie besuchen, wenn du es möchtest." Denn die Nekromantin ahnte ja nicht, welche Umstände den Mann vor ihr dazu gebracht hatten, den Kontakt mit seinen Blutsverwandten zu vermeiden.
Rolan Igorov sah sie also als Herausforderung an. Also traute er ihr nicht. Und er hatte auch allen Grund dazu, weswegen Aris ihm diese Offenbarung nicht übel nahm. Sie hatte es ja schon vorher gewusst und sie selbst war auch vorsichtig in seiner Nähe. Erweckt oder nicht, sie kannte ihn ebenso wenig, wie er sie. Dass er noch nicht versucht hatte, ihr Schaden zuzufügen, um wieder in sein geliebtes Totenreich zurück kehren zu können, sprach immerhin für ihn.
Doch die Eiszeit zwischen ihnen schwand zusehends, während sie am Feuer miteinander lachten und scherzten, es sogar wagten, einander zu necken, wo sie sich vorher vielleicht nicht getraut hatten.
"Soso, Rolan der grosse Frauenheld was?" Er posierte, zwinkerte, schien sehr überzeugt von sich zu sein. Aris beobachtete ihn eine Weile aus den ungleichen Augen und liess ihren Blick dann langsamer über seinen Körper wandern. Der Untote, noch in seinem Redeschwall, hielt inne, als er es bemerkte und musterte sie eingehend, als befürchte er, ein Fluch würde sich auf ihn legen. "Du hast Recht, wenn...na wenn ich dich jetzt so ansehe, fällt mir auf, welche Vorzüge du so hast..." Aris unterdrückte ein Lachen und behielt ihren lüsternen Gesichtsausdruck bei, den sie zuvor aufgelegt hatte. "Du bist ziemlich gross." Rolans rechte Augenbraue hob sich. "Und Frauen mögen grosse Männer. Vor allem, wenn sie dazu noch so stark sind." Die Nekromantin hatte sich erhoben und war zu ihrem Begleiter hinüber gegangen, um sich einfach auf seinen Schoß zu setzen. Ihre Finger strichen über seinen Haaransatz am Nacken. "Du weisst eine Waffe zu benutzen und bist ein Beschützer.." Sie kam ihm inzwischen sehr nahe, mit gehauchten Worten und ihrer Nase, die inzwischen über seine strich. Ihr Mund berührte Seinen fast, während sie ihren Blick nicht aus seinen intensiv dunkelblauen Augen fortschweifen liess. Mit einer letzten Bewegung überwand sie die wenigen Zentimeter, die ihren zierlichen Körper von seinen Muskeln trennten und schmiegte sich aufreizend an ihn. "Welcher Frau würde das nicht gefallen hm?" Igor gab ein undefinierbares grunzendes Geräusch von sich. "Zunge verschluckt mein Hübscher?" Aris strich mit ihren Lippen über Seine und summte leise, ehe sie zu grinsen begann und sich zurück lehnte, die Hände noch immer an seinem Hals, dieses Mal, um sich dort den Halt zu holen, den es brauchte, um nicht von Rolans Schoß und von dem Baumstamm obendrein zu fallen. "So wie ich das sehe....funktioniert da unten alles einwandfrei. Es gibt also doch noch Dinge unter den Lebenden, die dich locken könnten, bei uns zu bleiben Igor." Sie tätschelte seine Wange und zwinkerte, ehe sie sich erhob und zu ihrem Platz zurück schritt, auf den sie sich mit einem Siegeslächeln fallen liess. Ihn zu necken hatte etwas. Ihn wirklich zu ärgern, umso mehr. Und Rolan Igorov war in der Tat beliebt bei den Frauen gewesen. Nach dem, was sie da gespürt hatte, glaubte sie ihm dies ungesehen.
"Von dieser Geschichte,... die mit den Babys, habe ich noch nie gehört. Klingt echt gruselig."
Rolan war bis zu einem gewissen Grade sehr abergläubisch. Und nun hatte Aris ihm eine neue Flause in den Kopf gesetzt.
"Kein Wunder, dass so viele Kinder und Mütter bei der Geburt sterben. Das sind dann wohl die Kleinen, die sich noch mehr an das vergangene Leben erinnern können und sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, raus zu müssen."
Er dachte an all die Geschichten über Geister. Viele Kameraden hatten noch nie einen gesehen. Rolan selbst auch nicht. Aber dass es sie gab, stand außer Frage. Welche Rolle spielten sie, in diesem Zusammenhang? Die landläufige Meinung war ja, dass sie noch etwas, meist eine Untat, in der materiellen Welt zurück hielt. Aber vielleicht waren es auch die, die durch Suizid versuchten, dieser erneut zu entfliehen? Würde Rolan auch zu einem ruhelosen Geist werden, wenn er sich selbst das neue Unleben wieder nahm? Fragen über Fragen und dann musste er ausgerechnet an eine Nekromantin geraten, die selbst noch sowas, wie in der Ausbildung war. Naja, dafür war sie sicher deutlich umgänglicher, als die 'normale' Version, dieser Fingerwackler und Alchemisten.
"Du hattest ein Geschäft mit deiner Mutter geführt? Was habt ihr denn verkauft? Eingelegte Frösche? Spinnenbeine und Schlangenhaut? Kerzen mit Modergeruch? Alles, was man für abgefahrene Rituale so braucht? Oder ist das eher nur der Stil deiner Großmutter?"
Er grinste sie frech über den Feuerschein hinweg an, während er weiter schnitzte. So ganz in Schalk und Gedanken vertieft, hatte er bereits viel zu viel von dem Holzstück abgetrennt, ohne es zu merken. Er würde mit einem neuen Scheit anfangen müssen, wenn er eine brauchbare Dolchscheide fertigen wollte. Aber für den Moment war es eine hervorragende Beschäftigungstherapie, die ihn beim Reden, Scherzen und Sinnieren unterstützte.
"Eine Miniversion von mir?" fragte er belustigt. "Was willst du denn damit, wenn das Original noch da draußen rum läuft? Oder schlurft, je nach Lage? Ist das Schlurfen nicht besonders sexy?"
Ein weiterer, gespielter Flirtversuch. Natürlich meinte er es nicht ernst, aber er hatte die Hoffnung, seine Gesprächspartnerin damit ein wenig zu verunsichern. Konnte doch nicht sein, dass sie ständig und in allem die Oberhand behielt!
"Warum lässt du nicht einfach die Finger von der Magie? Dann dürfte die Partnersuche deutlich einfacher werden, wenn niemand deinen Hintergrund kennt? Gut genug siehst du jedenfalls aus,.... naja, auf,... besondere Weise halt."
Frauen mochten es doch immer gerne, wenn man sie 'besonders' nannte, oder? Rolan war da kein Experte auf dem Gebiet der Umwerbung und Romantik. Aber es hörte sich richtig an. In seinen Ohren. Dass es auch mit 'seltsam' und 'anders' ausgelegt werden konnte, kam ihm dabei gar nicht in den Sinn, obwohl er dies sicherlich unterbewusst gemeint hatte.
Er wechselte schnell das Thema, als er ihren skeptischen Blick aufgrund seines fragwürdigen Kompliments sah.
"Meine Familie, wenn sie Krieg und Hunger noch nicht dahingerafft hat, lebt östlich von Tretogor am Pontar. Kleines Kaff namens Rinde. Da wären wir zu Fuß über einen Monat unterwegs, also lassen wir das mit dem Höflichkeitsbesuch lieber."
Er wollte seine Familie gar nicht wiedersehen. Naja, zumindest seinen Alten nicht. Aber auch, wenn er seine Brüder und seine Mutter gerne noch einmal besucht hätte, wollte er ihre anklagenden Blicke nicht sehen müssen, dass er sie damals ohne ein Wort verlassen hatte. Verdammte Scheiße,... seinem Alten würde er sogar zutrauen, dass sein Verschwinden ihn damals so wütend gemacht hatte, dass er Frau und Kinder im Wahn erschlagen hat. Eines Tages, so schwor Rolan sich, wenn er sein eigenes Leben wieder unter Kontrolle hatte und nicht mehr von einem Tag in den anderen hinein leben musste, würde er zur Stätte seiner Geburt zurückkehren. Und sollte er dann herausfinden, dass sein Vater wirklich zu weit gegangen war, so würde er ihn aufspüren und zur Strecke bringen.
Aber all das erzählte er Aris natürlich nicht. Warum, wusste er allerdings selbst nicht. Es war ihm weder peinlich, noch war es eine besonders dramatische Geschichte. Es hatte auch nichts mit Vertrauen zu tun. Von seinem Alten hatte er betrunken schon häufig genug gesprochen, wenn ihm der Alkohol unter Kameraden die Zunge gelockert hatte.
Er hob verwundert eine Augenbraue, als Aris seine Vorzüge zur Sprache brachte. Wie groß und stark er doch war. Und eigentlich hätte er da schon wissen müssen, dass sie nur mit ihm spielte. Zu oft hatte er schon die gespielt überraschten Ausrufe, wie 'Du bist so ein starker Mann!' und 'Bei den Göttern, ist der groß!' unter einer roten Laterne gehört. Dennoch zog er nicht die richtigen Schlüsse, denn irgendwie hatte er Aris nicht so draufgängerisch eingeschätzt. Auch, wenn sie durchaus ein höllisches Temperament auffahren konnte, weckte Ihr zierliches Äußeres doch eher unschuldigere Gedanken.
Dass sie sich nun einfach schamlos auf seinen Schoß setzte, war für Rolan beinahe wie ein Schock, weswegen seine Hände vorerst bei ihm blieben. Unter normalen Umständen hätte er direkt ordentlich zugepackt, wo man bei einer Frau halt so zupackte. Ihre Finger in seinem Nacken fühlten sich seltsam an. Gut und kalt zugleich. Er spürte doch sonst keine Hitze oder Kälte. Aber ihre Berührungen glichen einer Handvoll Schnee, die man über seine Haut fahren ließ. Wieso dies jetzt, in diesem Augenblick der Fall war und nicht schon, als sie ihn in den Tagen zuvor bereits berührt hatte, war merkwürdig. Aber es fühlte sich berauschend an! Natürlich hätte jeder an Rolans Verstand gezweifelt, da man im Normalfall zärtliche Wärme mit der Berührung einer Frau verband. Aber für jemanden, der sonst nichts fühlen konnte, war selbst die Kälte wie eine Droge, von der man nicht genug bekommen konnte.
Zischend sog er den Atem ein, als ihre Nase und ihre Lippen über die seinen strichen. Noch immer nutzte er die Situation nicht aus, behielt seine Hände bei sich und suchte stattdessen nur mit seinem Blick den ihren. Er versuchte in ihr zu lesen, denn er traute dem Braten nicht so ganz. Zudem war es,... nicht richtig? Konnte man das so sagen? Oder eher denken? Sie war de facto seine 'Gebieterin'. Sollte zwischen ihnen nicht eine gewisse Distanz bleiben? Verdammt! Seit wann hatte er denn solche Bedenken, wenn es um den Körper einer Frau ging?! Oder war er nur ein Spielzeug für sie? Der Gedanke, dass sie ihn erweckt haben mochte, weil sie einen Sexsklaven brauchte, brachte ihn gegen seinen Willen zum Schmunzeln. Doch versiegte der Humor so schnell, wie er gekommen war, als er daran dachte, dass er bei dem Thema wohl nicht viel mitzureden hatte, wenn sie es sich in den Kopf setzte ihn 'überrollen' und 'tot spielen' zu lassen.
Eigentlich war die Nekromantin überhaupt nicht sein Typ. Sie war klein, zierlich und hatte nicht viele Rundungen, die man begrapschen konnte. Und sie war viel zu intelligent! Solche Frauen waren gefährlich und redeten dabei viel zu viel! Ein weiterer Grund, nichts mit ihr anzufangen, oder?
Vielleicht waren es aber auch die bedrohlich glitzernden Augen von Otto, die unter den Haaren der Nekromantin hervor lugten und viel zu nahe an Rolans eigenen waren, die den Untoten aber davon abhielten, die Initiative zu ergreifen. Aber der Vogel beherrschte sich,... oder war zu müde. Er knabberte nicht an Rolans Ohr, auch wenn er es mit einem schnellen Schnapper seines Schnabels leicht hätte erreichen können. Stattdessen zog der Vogel sich tiefer in das Versteck zurück, als wollte er gar nicht mehr von dem Schauspiel sehen, was sich hier gerade zwischen den beiden Menschen bot.
"Necrophil veranlagt? Warum suchst du nicht nach meiner Zunge, Kleines?" raunte er mit rauer Stimme, als er sie endlich wieder fand. Und tatsächlich bemerkte er, nun da Aris ihn darauf hinwies, dass sich wirklich etwas an ihm regte. Bei den Göttern, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Er wusste nicht, warum. Aber dass er diese Funktion noch hatte, beruhigte ihn ungemein. Schmiedete sein Selbst doch mehr an die Lebenden, als an die Toten. Selbst wenn er nichts anderes mehr, als Kälte fühlen würde. Der Akt, es zu tun, war etwas, was Lebende taten. Und so konnte er weiter einer von ihnen sein.
Kurz fragte er sich, ob das träge, sirupartige Blut in ihm wohl dabei Vorteile bringen würde. Er war jedenfalls froh, nicht mehr pissen zu müssen. Wenn das Blut sich so langsam nur wieder zurückziehen würde, konnte es ewig dauern bis,... naja, wieder normale Zustände eingetreten waren.
Aber auf seine Frage hin, tätschelte sie ihm nur die Wange und zog sich wieder auf ihren Platz zurück. Unter ihrem Haar schnatterte und klapperte Otto, als wenn er die Belustigung seines Frauchens teilte. Verdammte Scheiße! So lange hatte er sich gegen den Gedanken gewehrt, sie könnte es ernst meinen. Und dann,... ganz zum Schluss war er eingeknickt. Und genau in dem Moment hat sie den Sack zu gemacht! Da sah man mal wieder, wie tief stille Wasser so sein konnten.
Er schnaubte und sammelte Dolch und Holz wieder auf, welche er in seiner Überraschung fallen gelassen hatte. Seine Augen funkelten im Schein des Feuers anklagend zu ihr herüber.
"Also doch nur ein Spiel? Ich hätte es gleich wissen müssen."
Er versuchte sein aufgebrachtes Gemüt ruhig zu halten und nach außen hin den gelassenen, erfahrenen Mann zu spielen. Ob er es in ihren Augen schaffte, vermochte er nicht zu sagen.
"Wahrscheinlich bist du die erste, die Zeter und Mordio schreit, wenn ein Kerl sich morgens aus deinem Bett schleicht und einfach verschwunden ist, obwohl er dir am Abend zuvor die ewige Treue geschworen hat, hmm?"
Belustigt lachte er auf, wobei nur ein Teil davon wirklich ernst gefühlter Humor war.
"Bist eh nich' mein Typ, Kleine."
Verdammt! Das ließ ihn nun eingeschnappt, wie einen kleinen Jungen klingen, dem man seinen ersten Korb gegeben hatte.
"Aber danke für die Funktionsprüfung. Spart mir im Freudenhaus eine Menge Geld, welches wir eh nicht haben."
" Du wirst es nie erfahren", kicherte Aris einfach vor sich hin und wippte bedeutungsvoll mit den hellen Augenbrauen zu ihrem Reisegefährten hinüber. Wie er murrte und meckerte in seinem verletzten Männerstolz. Soso, sie war also nicht sein Typ. "Hat sich gar nicht so angefühlt, als sei ich nicht dein Typ und bis eben hiess es noch, ich sähe ganz gut aus, auf meine Weise versteht sich." Ihr Schmunzeln riss nicht ab. "Dabei hätte ich nicht mal gedacht, dass du überhaupt einen bestimmten Geschmack hast, was das schöne Geschlecht angeht. Lass mal höran, auf was...nein- auf WEN stehst du so?" Aris zog die Knie im Sitzen an die Brust und musterte den Untoten aus den Augenwinkeln, während Otto seine Position auf ihrer Schulter veränderte, um es sich offenkundig bequemer zu machen.
Es blieb still zwischen ihnen beiden. Und die Nekromantin begann darüber nachzudenken, ob sie ihr Spielchen zu weit getrieben hatte. Böse gemeint hatte sie es keinesfalls. Einen versöhnlicheren Ton anstimmend, zog sie die Beine nun in einen Schneidersitz und drehte sich Rolan mehr zu. "In Ordnung, ich fange an. Also. Ich mag grosse Männer. Mit Muskeln, ist klar. Männer, die nicht länger als ich im Zuber brauchen. Männer, die nicht andauernd in den Spiegel blicken müssen, um den Sitz ihrer Haare zu überprüfen." Ihre Mundwinkel zuckten, ehe sie wieder in den Feuerschein sah. "Männer, die nicht morgens aus meinem Bett schleichen, weil sie Angst vor dem haben, was ich bin. Oder vor Otto." Aris schnappte spielerisch nach Ottos Schwanzfedern. Ein beleidigtes Krächzen ertönte unter ihrem Haar, was sie auflachen liess.
"Mein Vater hat die Flucht ergriffen, als ihm klar wurde, welchen Geschäften meine Mutter nachging. Und dass auch ich diese Gabe erlernen würde. Es liegt eben in der Familie, anders zu sein." Ihr Vater. Solange ihre Mutter gelebt hatte, war dies ein Kapitel gewesen, welches mit Vorsicht zu geniessen war. Aris hatte es in ihren Kleinkindjahren vielleicht ein, zwei Mal gewagt, nach ihm zu fragen. Dinge in Erfahrung bringen zu wollen. Über sein Wesen. Seinen Beruf. Die Geschichte, wie sich ihre Eltern kennengelernt hatten. Viel hatte sie nicht zu hören bekommen. Ihr Vater hatte den Namen Jack getragen. Er war Zimmermann gewesen. Hauptsächlich hatte er ein bemerkenswertes Talent darin besessen, Möbel wie Stühle, Tische, Schränke und dergleichen herzustellen. Ihr Kinderbettchen, das hatte ihr Vater einst selbst gebaut und war ab dem Zeitpunkt, als Aris dies gewusst hatte, zu ihrem grössten Schatz geworden. Bis sie hinaus gewachsen war, natürlich. Unter Tränen hatte das damalige Mädchen, welches sie gewesen war, dabei zugesehen, wie es hinausgetragen und durch ein Grösseres ersetzt worden war. Gefertigt von einem Fremden.
Aris blinzelte und riss sich damit selbst aus ihrem Tagtraum voller Erinnerungen.
"Meine Mutter und ich haben mit den Toten kommuniziert, ganz abgesehen von dem Verkauf von...Spinnenbeinen und Froschlaich und so einem Zeug." Die Nekromantin zwinkerte ihm zu. "Es war lukrativ, da die Trauer oft den gesunden Menschenverstand überdeckt. Wer gäbe nicht sonstwas, um einen geliebten verstorbenen Menschen noch einmal sprechen zu hören, sich noch ein letztes Mal austauschen zu können. Und nun stell dir vor, es wäre bezahlbar. Ein solcher Wunsch nur ein paar Münzen entfernt..." Sie zuckte die Achseln. Geschäft war eben Geschäft. Geld regierte die Welt.
"Aber nun zu dir. Da wir deine Familie nicht besuchen werden, erzähl mir doch von ihr. Deinen Eltern. Deinen Geschwistern." Denn in ihr regte sich die Neugierde darüber, wer Rolan wirklich war und welche Kindheit ihn geprägt hatte. Das tat sie immer. Niemand konnte sich diesen Umstandes entziehen.
Rolan schnaubte und stocherte mit einem Ast im langsam schwindenden Feuer herum, um es wieder ein wenig zu entfachen.
"Jetzt bild' dir da mal nicht so viel drauf ein, Kleine. Wenn Mann schon länger ohne Spaß zwischen den Laken war,... und ich vermute der Tod zählt hier doppelt, dann kann auch ein Weib, gebaut wie ein Brauereipferd ihm eine Reaktion entlocken."
Und Rolan hatte schon seit Monaten keinen Spaß dahingehend mehr gehabt. Seitdem seine ehemalige Söldnertruppe sich dem Banditentum hingegeben hatte, waren Besuche in Städten nur noch selten gewesen. Vom Geld ganz zu schweigen. Und an den Vergewaltigungen armer Bauersfrauen hatte er sich nicht beteiligt.
Ungewohnt neugierig lauschte er den Ausführungen seiner Begleiterin, welcher Typ Mann so der ihre war. Klatsch und Tratsch, der ihn sonst eigentlich nicht wirklich interessierte, aber verdammt! Bis auf den letzten Punkt traf das ja alles auf ihn zu. Seine abergläubische Natur hätte sie aber wohl wirklich damals verlassen, wenn er das mit der Nekromantie spitz gekriegt hätte. Jetzt,... eh schon so tief in dieser Scheiße steckend, machte es ihm gar nicht mehr so viel aus. Vielleicht war es auch der Zauber, den sie auf ihn geworfen hatte, dass ihn diese ganze Sache mit der Nekromantie so kalt ließ. Hach, welch ein Wortspiel!
"Hmpf,..." machte er und blickte Aris durch einen aufsteigenden Funkenwirbel mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
"Sind wir hier bei 'ner Nachthemd-Party? Wo wir aus dem Nähkästchen plaudern und über Jungs reden?"
Er fürchtete bereits um die Steilvorlage, die ihr dieser Kommentar wohl bieten würde. Aber zurücknehmen konnte er die Worte auch nicht mehr. Der Grund, warum er nicht darüber reden wollte, war dabei recht simpel. Er hatte sich noch nie so recht Gedanken darum gemacht, welcher Typ Frau für ihn besonders anziehend war. Das Leben auf der Straße verdrängte ganz schnell den Wunsch, langfristige Beziehungen einzugehen. Und ein Betthupferl für eine Nacht musste nun keine Herzogin von Toussaint sein. Erschreckend war aber, wenn er in seinem Kopf eine ähnliche Liste, wie die von Aris durchging, dass die Nekromantin dort einige Punkte abhaken konnte. Klein und zierlich musste die Traumfrau sein. Seinen inneren Beschützerinstinkt damit ansprechen. Auch durfte sie nicht stumm und zurückhaltend sein. Er musste mit ihr nicht prahlen und seine Macht über sie demonstrieren. Vielleicht genoss er dieses verbale Geplänkel am Lagerfeuer auch deshalb so sehr, weil Aris ihm Paroli bieten konnte und wollte.
Aber er konnte ja jetzt wohl schlecht diese beiden Vorlieben zur Sprache bringen, wo er zuvor noch herausposaunt hatte, dass Aris so gar nicht sein Typ war, oder? Also schwieg er beharrlich zu diesem Thema und mimte den grummeligen Mann, der in seinem Stolz einfach nicht über solche kindischen Themen sprach.
Letztendlich wurde Rolan aber doch wieder redselig. Aris sprach bereitwillig von ihrer Mutter und dem dazugehörigen Geschäft und regte die Neugier des Spielers und Trickbetrügers an.
"Ihr habt mit den Toten geredet?" fragte er erstaunt und hielt inne, dem Feuer Funken zu entlocken, um ihr Gesicht besser sehen zu können.
"So richtig? Sowas können Nekromanten auch?"
Eigentlich war das eine recht dumme Frage, bemerkte er selbst. Immerhin hatte sie seine Seele irgendwie gefunden und ihn zurück geholt. Aber er konnte sich nicht an ein Gespräch mit ihr erinnern, als er hinter dem Schleier gewesen war.
Aber es war ein ganz anderer Gedanke, der ihn lächeln ließ. Leuten das Geld abzuknöpfen war durchaus interessant. Und wenn man gut darin war, musste man sich nicht an die Wahrheit halten. Er hob einen Zeigefinger in die Höhe, als wenn er gerade eine bemerkenswerte Entdeckung gemacht hätte.
"Ich denke ja eher, ihr habt die Leute verarscht? Ihre Trauer so richtig ausgenutzt und ihnen nur gesagt, was sie hören wollten, hmm? Dazu muss man nur gute Menschenkenntnisse haben und bereits im Vorfeld die richtigen Fragen stellen. Hab' schon von diesen Betrugsmaschen gehört. Gefährlich, da man von seinem Ruf lebt und jeder Fehler das Ende der Karriere bedeutet. Aber von jemandem, der einen guten Trickbetrug zu schätzen weiß,... Respekt, Aris. Respekt."
Er blickte an sich hinab. Die provisorischen Sandalen, die er sich aus geschnitztem Holz und geflochtenen Ranken gefertigt hatte, strotzten nur so vor Dreck und fielen fast von selbst auseinander. Der lange Marsch durch unwegsames Gelände hatte seine Spuren hinterlassen. Die Schnüre hatten sich tief in seine Füße geschnitten und vermutlich waren seine Sohlen eine einzige Blase. Da er aber keinen Schmerz fühlen konnte, war er einfach immer weiter gegangen. Wie eine Maschine. Wie ein Toter.
Prüfend zog er an einer der Ranken und verzog angewidert das Gesicht, als darunter zähes Blut zum Vorschein kam. Er sollte sich wohl erst um besseres Schuhwerk kümmern, bevor er diese dämliche Dolchscheide fertigte. Aber aus Holz und Schnüren konnte man nicht viel machen. Wenn er doch nur etwas Fell hätte. Natürlich hatte er weder Zeit noch Mittel, um ein Tierfell zu gerben. Aber für ein oder zwei Tage würde es auch so als Fußwickel seine Dienste leisten. Und bestialisch stinken, aber erwartete man sowas nicht auch irgendwie von einem Untoten?
"Zu meiner Familie gibt es nicht viel zu sagen." brach er die Stille, die nur das Knacken des Feuers in der letzten Minute gefüllt hatte.
"Eine Geschichte, wie man sie tausendfach überall hören kann."
Er zuckte mit den Schultern, als ob er sich für die mangelnde Originalität entschuldigen wollte.
"Mein Alter war ein Säufer und Schläger. Meine Mutter eine liebende aber schwache Hausfrau, die darunter sehr gelitten hat. Wir waren arme Bauersleut mit einem geerbten, kleinen Hof, weit ab vom Schuss. Heruntergekommen war er und die dazugehörigen Felder waren mehr Sand und Stein, als alles andere. Dementsprechend besaßen wir auch nichts von Wert und wenn eine Ernte mal gut ausgefallen war, hat der Alte einen Großteil des Erlöses gleich versoffen, verspielt oder verhurt. Wie wir durch die strengen Winter gekommen waren, ist mir bis heut' noch ein Rätsel. Ich weiß nur, dass meine Ma' viel zu häufig krank vor Hunger gewesen war, da sie ihre Portionen an ihre Söhne gegeben hatte. Und davon hatte es drei. Bjorn und Ruben. Ich war der Mittlere."
Gedankenverloren klaubte er eine Ameise von seinem Arm, die sich wohl dezent in ihrer Neugier verlaufen hatte. Rolan hatte ihre kribbeligen Schritte nicht auf seiner Haut gespürt. Neugierig hielt er sie zwischen zwei Fingern und betrachtete, wie das Insekt vor sich hin strampelte.
"Ich denke, ich brauche dir keine Details zu erzählen. Vermutlich kannst du die Lücken selbst füllen. Irgendwann wurde es mir zuviel und ich bin von Zuhause fort gelaufen."
Wieder zuckte er mit den Schultern, als ob das keine große Sache wäre. Dabei bereute er es seit je her ganz immens. Nicht wegen seines Alten. Wegen dem ganz bestimmt nicht. Rolan Igorov hatte nur selten ein schlechtes Gewissen. Seine Zeit als Bandit gehörte ganz klar dazu. Aber ebenso wurde es durch die Entscheidung, Mutter und Brüder im Stich gelassen zu haben, großzügig genährt.
"Danach habe ich mich als Wanderknecht verdingt. Dann irgendwann als Söldner. Und zum Schluss, als unseren Trupp alles Glück verlassen hatte, sind wir auf die gesetzlose Seite gewechselt."
Die Ameise zappelte noch immer zwischen seinen Fingern. Ebenso hilflos im Griff des übermächtigen Gottes gefangen, wie Rolan in den Klauen des Schicksals. Vorsichtig setzte er das Insekt wieder ab und zerquetschte es nicht, wie es wohl fast jeder andere nun getan hätte. Er schaute ihm noch eine Weile nach, wie es mäandernd seinen Weg ins Unbekannte fortsetzte.
"Das war die kurze und langweilige Geschichte von Rolan Igorov. Nix, was irgendwer wohl mal in ein Buch schreiben wird. Und ganz bestimmt wird niemand ein Lied darüber singen."
Wieder zerrte er an seinen selbstgemachten Sandalen.
"Sag mal,..."
Er deutete auf das seltsam anmutende Bündel auf Aris Schulter.
"Glaubst du, du kannst Otto dazu bringen, uns ein oder zwei Kaninchen für ihre Felle zu fangen? Ansonsten werde ich die Nacht über wohl wieder Fallen bauen und aufstellen, während du schläfst. Und schlafen solltest du nun langsam. Je früher wir aufbrechen, desto weniger müssen wir unter der Sonne leiden."
"Ich wusste es. Du hast gar keinen Typ." Überzeugt davon, dass sie damit richtig lag, rollte die zierliche Frau mit den Augen und liess zu, dass er dieses heikle Thema schloss. Es war auch nicht weiter wichtig. Das, was einem an dem anderen Geschlecht faszinierte, definierte nicht das eigene Wesen. Oder? Nun. Wer sich einen Narzisten aussuchte, genoss wohl den selischen Schmerz, den solch eine Verbindung mit sich brachte. Wer eine dunkle Hautfarbe schätzte, mochte wohl die Exotik, den Kontrast zur eigenen Blässe. War es nicht so? Gab es nicht für alles einen Grund? Aris verhedderte sich in ihren Gedanken und schob diese dann grob beiseite. Es war NICHT von Belang für ihre Verbindung zu dem Untoten. Nicht für das, wofür sie da war und wofür er selbst. Sie würden es miteinander aushalten müssen, ob Rolan nun Brünette liebte, oder die seltenen Rothaarigen bevorzugte.
Ihre Gedanken lösten sich in Empörung auf. Weil Rolan etwas ansprach, was sie zugegeben in der Ehre verletzte, die sie empfand. Über das, was sie war, was sie in sich trug, was ihre Mutter in sich getragen hatte und...und über das, was sie gemeinsam getan hatten. "Im Ernst jetzt? Du selbst stösst dich daran, welchen Vorurteilen du begegnest, deine Person betreffend und wirfst mir vor, den Menschen das Geld aus der Tasche gezogen zu haben?" Die hellen Augenbrauen hoben sich in Richtung Haaransatz. Ihre Stimme blieb ruhig. Sehr ruhig. Und vielleicht war das der Umstand, der Rolan aufhören lassen musste. Frauen, die schrien, die mit Dingen warfen, die um sich bissen, weil sie wütend waren, die beruhigten sich auch wieder. Die verziehen. Und machten weiter. Frauen wie Aris-nicht. Sie malte ihre Welt in schwarz und weiss. So, wie man es tat, was die Nekromantie anging. Sie war entweder Fluch, oder Segen. Niemals etwas dazwischen. "Nekromanten-nicht alle, können auch das ja. Wir erreichen Seelen, wir sprechen mit denjenigen, die etwas zu sagen haben. Du würdest dich wundern, wie redselig Leichen sein können. Und wie viele Informationen sie bereit sind zu teilen. Über sich, über das, was sie nicht loswerden konnten. Aber am Meisten darüber, was sie bereuen. Denn am Ende des Lebens Rolan, zählt nicht, was man erlebt hat. Es zählt nur, was man bereut, NICHT getan zu haben." Aris sah ins Feuer zurück. "Menschen teilen alle die Schwäche, über die Dinge, die sie wirklich tief in ihrer Seele berühren, nicht zu sprechen. Wir...wir schweigen. Die einen aus Feigheit, weil sie die Konfrontation scheuen. Weil sie lieber im Stillen gemocht werden." So war Aris nicht gestrickt. Sie würde lieber für die gehasst, die sie war, anstatt für etwas geliebt zu werden, was sie nur vorspielte. "Andere schweigen, weil sie nicht wissen, wie sie etwas sagen sollen. Sie tragen dann Geheimnisse, einige schwerer, andere weniger schwer, mit sich herum. Dann sterben sie und es ist zu spät. Manchmal finden Angehörige dann etwas heraus. Und da komme ich ins Spiel. Ich kläre Fronten, ich lüfte Geheimnisse, ich bringe Licht ins Dunkel. Ich erlaube einen Austausch. Ein letztes Mal.". Die weissblonde Frau nickte zu sich selbst. "Natürlich verlange ich dafür auch etwas. Aber wie du siehst, hat es mir keinen Reichtum gebracht." Ein Indiz dafür, dass sie keine Wucherpreise für ihre Arbeit verlangte. "Ich bekomme aber so viel mehr als Münzen." Dankbarkeit. Seelenfrieden. Rechtschaffenheit. Dinge, die man nicht kaufen konnte und die die wenigsten Menschen jemals besitzen würden.
Rolans Geschichte brachte wieder ein wenig Ablenkung und liess die dunklen Wolken vorüber ziehen, die zwischen Aris und ihrem Begleiter aufgezogen waren. Ein wenig hatte die lebende Leiche Recht. Es war eine Geschichte, die man überall hören konnte.
Trunkenboldvater. Schlägervater.
Schwache Mutter. Hausfrau.
Kinder. Die zu viel waren. Überforderung hier und da.
Die Flucht von Zuhause und der Weg danach.
Dass diese Geschichte alltäglich erschien, machte sie nicht weniger traurig und Aris hätte Rolan eine andere Vergangenheit gewünscht. Andererseits...welche Kindheit war schon ausnahmslos glücklich?
"Vielleicht schreibt mal einer ein Buch über einen wandelnden Toten?" Möglich wärs, je nachdem, welche Abenteuer sie erlebten und wie lange Rolan auf der Erde wandeln würde. Wer wusste schon, was ihnen noch Episches bevorstand.
"Ich meine, ICH könnte singen. Aber. Dann bettelst du mich ganz schnell an, es sein zu lassen und wünscht dir deine Unbedeutsamkeit zurück." Ihre Mundwinkel zuckten kurz, dann glitt ihr Blick zu ihrer Schulter. "Er ist kein Hund. Aber er jagt wie einer." Was gruselig war. Und niemals zur Gewohnheit wurde. Nicht einmal für Aris, die Otto bereits sein Leben lang begleitete. "Wenn er das nächste Mal mit einem Fell besetzten Tier daher kommt, könnten wir versuchen, es ihm abzunehmen. Aber... sein Zorn wird dich treffen, das weisst du hoffentlich." Sie schmunzelte. Es war durchaus witzig, sich das vorzustellen. Rolan nahm otto seine wohl verdiente und hart erarbeitete Beute weg, die sein Mahl darstellte. "Klärt das unter uns, ich halte mich daraus. Ich bin immerhin seine Mami." die Nekromantin zwinkerte Rolan zu. "Du hast Recht, ich werde....mich hinlegen." Und es dauerte keine fünf Minuten, da übermannte Aris der Schlaf wie eine Welle Wasser. Sie hatte keine Chance, sich dagegen zu wehren. Und auch nicht, Rolan erneut so viel Vertrauen zu schenken, damit sie sorglos Ruhe finden konnte.
Vorurteile. Da hatte die Nekromantin durchaus Recht. Man schor andere Leute viel zu schnell über einen Kamm. Natürlich ärgerte es ihn immer, wenn die Menschen in ihm nur den dreckigen und dummen Söldner sahen, der Kinder stahl und Frauen vergewaltigte. Aber er konnte ihnen da auch keinen Strick draus drehen, denn war er ganz ehrlich, so gab es deutlich mehr schwarze Schafe unter Soldaten und Wanderknechten, als es Rolan Igorovs unter ihnen gab. Es war halt wie mit Nekromanten und Hexern. Die Geschichten brachten die Menschen und Anderlinge stets dazu, voreilig zu urteilen. Und Geschichten, die man weiter trug, handelten immer nur von den schlechten Beispielen. Niemals von den guten Taten, die jemand vielleicht mal begangen haben mochte.
Er hob abwehrend die Hände. Eigentlich hatte er das ganze als Kompliment vorgebracht. Streit wollte er deswegen auf keinen Fall hervorrufen.
"War ja nur 'ne Idee, wie man es geschickt machen kann und viele Hochstapler sicher auch tun. Wusste ja nicht, dass Tote,... wirklich so bedürftig sind, sich was von der Seele zu reden. Wohl richtig, wenn man nur noch diese hat, ... irgendwie."
Vor allem, was die Toten an ihrem Leben bereuten, hatte die Nekromantin gesagt. Ohja! Da war Rolan Igorov ganz vorn mit dabei!
"Also tust du sogar was Gutes und riskierst dabei alles, in der Hoffnung, die Leute verpfeifen dich nicht. Verstehe."
Er nickte anerkennend und ließ das Thema dann besser fallen. Auch wenn er ein wandelnder Toter war, bereitete ihm der Gedanke mit anderen Toten sprechen zu können, ein mulmiges Gefühl.
Belustigt hob Rolan eine Augenbraue. Ein Buch über einen wandelnden Toten? Wen sollte denn so etwas interessieren? Wahrscheinlich würde solch ein Buch auf einem Marktplatz von den abergläubischen Leuten zeremoniell verbrannt.
"Wer weiß,... vielleicht sind wir beide nur die Charaktere in einer Geschichte und wissen es einfach nicht."
Verdammt, war er heute wieder philosophisch angehaucht. Gedanken, die er stets in der stillen Einsamkeit seines eigenen Geistes gedacht hatte, da nie jemand um ihn herum gewesen war, der auch nur annähernd so tiefgründig gedacht hatte.
Singen. Kurz zuckten seine Mundwinkel und er musste sich zurückhalten, sie nicht aufzufordern ein Ständchen zu bringen, so wie man einem Barden mit Zurufen dazu bewegen musste, eine Zugabe zu liefern. Letztendlich entschied er sich aber dagegen, denn so aufgeheitert würden sie hier noch weitere Stunden sitzen und Aris brauchte ihren Schlaf.
Als wenn Otto verstanden hätte, was Rolan von ihm wollte, linste er mit seinen schwarzen Knopfaugen böse unter den Haaren seines Frauchens hervor, als ob er Rolan eine unausgesprochene Herausforderung entgegenwerfen wollte. 'Versuch's nur, Mensch!'
Rolan seufzte und ließ von seiner Idee ab. Es hatte so ausgesehen, als wenn der Vogel jedes Wort verstand, was die Nekromantin zu ihm sprach. Die Hoffnung war gewesen, dass sie, als seine Vertraute, ihn dazu hätte bewegen können, Dinge, die sie brauchten, für sie zu besorgen. Felle, kleinere Werkzeuge, Geld,... so wie mit diesem Ring, den der Rabe so bereitwillig für Aris 'apportiert' hatte.
Erneut nutzte Rolan die Nachtruhe der Nekromantin, um seine handgefertigte Ausrüstung zu verbessern. Er schnitzte sich die angedachte Dolchscheide und ein neues Paar Sandalen, die er mit überschüssigem Leinenstoff des eh viel zu großen Hemdes umwickelte. Zufrieden mit sich und seiner Arbeit ließ er seinen Blick immer wieder schweifen. Aufmerksam beobachtete er die Umgebung, um nicht von Mensch oder Tier überrascht zu werden. Otto hatte es sich auf einem niedrigen Ast in der Nähe gemütlich gemacht und döste vor sich hin. Gelegentlich starrte Rolan in das Feuer, nach dessen Wärme er sich so sehr sehnte, und rügte sich dann, dass er damit nur seine Nachtsicht minderte. Auch konnte er es sich nicht verkneifen, die schlafende Aris zu betrachten. Wie sie dort so friedlich schlief, so gar nicht frech und bestimmend, wie im wachen Zustand, machte sie aufgrund ihrer zierlichen Art eher den Eindruck eines Kindes. Und genau deswegen musste Rolan sich erneut immer wieder rügen, denn eigentlich fand er die kleine Nekromantin ja ganz aufregend. Wie sie mit ihm auf diese sinnliche Weise gespielt hatte,... war schon toll gewesen.
Ärgerlich verdrängte er den Gedanken. Noch letzte Nacht hatte er überlegt, ihr den Schädel einzuschlagen, um seinem Dienst und diesem Leben zu entkommen. Was hatte sich geändert? Könnte er es noch immer tun? Wahrscheinlich nicht. Der Drang, wieder ins Jenseits zu gelangen, wurde immer schwächer und das Abenteuer, auf das er sich mit seiner Herrin und diesem Mordsbiest begab, hatte etwas an sich. Auch wenn seine ganzen Empfundungen durch das Dasein als Untoter mächtig gedämpft waren, empfand er doch so etwas wie Nervenkitzel bei dieser Reise. Überleben in der Wildnis, Rache an seinen ehemaligen Kameraden, Magie und Orte der Macht. Und später hinaus noch Hexen und mystische Artefakte und Bücher. Eins war mal sicher,... das alles hatte deutlich mehr Biss, als das simple Leben als Knecht und Söldner.
Am nächsten Morgen, nachdem Aris sich eine großzügige Portion ihrer Wegzehrung gegönnt hatte, machten sie sich weiter auf den Weg und nutzten nach Möglichkeit jede sich bietende Gelegenheit, dabei im Schatten zu bleiben. Die Stimmung zwischen ihnen war offen und herzlich, da sich jeder von ihnen noch an die scherzhaften Geplänkel der letzten Nacht erinnerte, die sie ein wenig näher zusammen gebracht hatten.
Die Ruhe und Nahrung hatte Aris gut getan. Sie hielt trotz ihrer kürzeren Beine gut mit Rolan schritt und dieser fühlte, wie seine eigenen Bewegungen wesentlich geschmeidiger waren, als noch am Abend zuvor. Es blieb nur zu hoffen, dass sie genug Proviant für ihre Reise zu diesem Ort der Macht bei sich hatten. Und dass dieser Besuch auch etwas bringen würde, denn es galt auch noch einen Rückweg zu bestreiten. Wo auch immer dieser hinführen mochte.
Der Baumbewuchs wurde immer spärlicher und sie folgten der stärker befahrenen Straße, die in den Osten der Sturmfelder führte. Ab und an passierten sie Karren und Wanderer, die ihnen allerdings keinerlei Beachtung schenkten. Hin und wieder wurden sie von recht teuer anmutenden Kutschen überholt, die sie für eine ganze Weile in Staubwolken hüllten und zumindest Aris husten ließen. Rolan kam es seltsam vor, so viele Adelige oder Kaufleute auf dieser Straße anzutreffen, verfolgte den Gedanken aber nicht weiter. Die Sonne machte ihm bereits am frühen Vormittag zu schaffen, doch der Weg abseits der Straße war unwegsam und würde seine Begleiterin nur zu schnell die Kräfte rauben. Also ertrug er die sengenden Strahlen der Sonne, die erneut ihr bestes tat, seine zuvor fast verheilten Verbrennungen wieder aufplatzen zu lassen.
Schließlich führte sie ihr Weg zu einem großen Anwesen, welches schon aus der Ferne durch seine hohen Mauern und dichten Hecken sichtbar war. Die Straße machte an diesem Grundstück eine Biegung nach Norden hin, der Weg, den sie eigentlich nehmen mussten, wenn die Beschreibung Sarrays stimmte. Ein Wegweiser besagte, dass es sich hier um das Anwesen der Familie Vegelbud handelte und die Straße sie weiter nach Alness führen würde.
Das Anwesen pulsierte förmlich vor Leben. Etliche Bedienstete waren damit beschäftigt, Pflanzen zu pflegen, Kieswege zu harken, Pferde zu versorgen oder die vielen Kutschen auszuladen, die bereits vor dem Tor parkten. Das war also das Ziel all der reichen Leute gewesen. Für einen Moment standen Aris und Rolan einfach nur da und betrachteten das Geschehen aus gemäßigtem Abstand. Selbst Otto war neugierig und zog über dem Anwesen seine Kreise.
"Hey! Ihr da!" ertönte plötzlich die aufgebrachte Stimme einer Frau in mittlerem Alter. Beide Gefährten drehten sich zu der Person um, Rolan dabei angriffsbereit die Hand am Heft seines Dolches. Doch die Frau bemerkte die angespannte Haltung des Untoten gar nicht und trat ungeniert näher heran. Sie hatte strenge Züge, durchsetzt von den ersten Falten des Alters und sorgenvolle Ringe unter den Augen, die von Stress und zu wenig Schlaf zeugten. Ihr grau meliertes Haar steckte in einem straffen Dutt und passte perfekt zu ihrer 'Kein-Scheiß-Mentalität'. Ihre Kleidung war sauber und ordentlich geschnitten und hob sich alleine dadurch von den restlichen Bediensteten ab. Scheinbar hatte diese Frau eine höhere Position innerhalb des Haushaltes inne.
"Wie heißt ihr?"
Sie winkte direkt wieder mit einer flapsigen Geste ab, ohne auf eine Erwiderung zu warten.
"Spielt keine Rolle. Wollt ihr euch gutes Geld dazu verdienen? Ihr seht aus, als ob ihr es gebrauchen könntet."
Ihr Blick heftete sich vor allem an Rolan, dessen dreckige und zusammengeschusterte Kleidung einen wirklich armseligen Eindruck machte. Auch jetzt setzte sie ihren gehorsamsgewohnten Redeschwall einfach fort, ohne eine Gelegenheit zu bieten, das Wort zu ergreifen.
"Die ehrwürdige Familie Vegelbud gibt heute Abend einen ihrer weltberühmten Bälle und wir sind hoffnungslos unterbesetzt, was unsere Bediensteten angeht. Die ersten Gäste sind bereits eingetroffen und es ist noch so viel zu erledigen. Vor allem am Abend brauchen wir mehr Ausschenker und Servierer. Ich bin bereits so verzweifelt, so verlotterte Wanderer, wie euch beide einzustellen und sogar einen Bonus zu zahlen."
Wieder ein abwertend abschätziger Blick, den die Verwalterin über Rolan, zu Aris und wieder zurück schweifen ließ.
"Natürlich müsst ihr euch vorher in den Dienerquartieren waschen. So dreckig lass ich euch ganz bestimmt nicht zu den Gästen. Und du,...?"
Sie blickte Rolan ganz direkt und ein wenig angewidert an. Scheinbar war sein sonnengeplagtes Äußeres mit den offenen und nässenden Brandwunden schon schlimmer, als er es bisher angenommen hatte.
"Hast du irgendeine Krankheit, von der ich wissen müsste? Steck' mir hier bloß niemanden an, hast du gehört!?"
Theatralisch gab sie einen tiefen Seufzer von sich.
"Naja, heute Abend tragen alle - auch die Dienerschaft - Masken. Also gar nicht so schlimm, dass du wie rohes Gehacktes aussiehst, Bursche. Aber diese,... diese,..."
Sie wedelte unschlüssig mit den Händen vor sich herum, als ob sie nicht wusste, wie sie die Beleidigung für ihre Augen nun nennen sollte.
"Lumpen! Diese Lumpen müsst ihr natürlich loswerden. Euch werden für den Abend Uniformen gestellt. Aber wehe euch, solltet ihr lange Finger bekommen. Da verstehen wir hier keinen Spaß und so manch ein Diener hat es schon arg bereut über den Tellerrand geschaut zu haben, klar?"
Rolan war durchaus in Lumpen gewandet, wohingegen er nur das Schlimmste erahnen konnte, was eine Frau wie Aris zu solch einem Kommentar über ihre eigentlich durchschnittliche Kleidung zu sagen hatte.
"Also! Trödelt nicht herum! Wir haben keine Zeit! Rein mit euch und an die Arbeit!"
Aris besah sich dieses ausladende Anwesen. Das Hauptgebäude, welches zu beiden Seiten durch eine gewundene lange, steinerne Treppe erreicht werden konnte, war hell erleuchtet. Unablässig waren Kutschen unterwegs, die neue Gäste brachten. Und deren Pferde in den Stallungen versorgt werden mussten.
Vor dem Haus, was den Namen nicht verdiente, wohl eher ein Schloss im Miniformat war, stand ein nicht weniger prukvoller Brunnen, aus dem unablässig Wasser plätscherte und welcher eine gewisse Anziehungskraft auf die Eintreffenden ausübte. Die Nekromantin glaubte nicht, dass Geld allein glücklich machte. Doch sie war nicht so naiv, abzustreiten, dass eine gewisse Menge an Geld sorgenfrei machte. Und war das nicht erstrebenswert? Trotzdem empfand sie keine Gier. Oder Neid. Es war mehr ein Staunen über all die Schönheit, die käuflich war.
Und wie durch ein Wunder, trat eine burschikos wirkende Frau auf Rolan und sie zu. Billigte sie mit abschätzenden Blicken, die ihre Not jedoch nicht verbergen konnten. Sie brauchte Hilfe. Ungewöhnlicherweise und gerade in diesem Moment so herbeigesehnt, war diese Frau sogar mit solchen Gestalten wie der Nekromantin und dem Leichnam zufrieden.
Letzterer sah inzwischen aus wie eine Wurst, die man zu lang ins siedende Wasser gelegt hatte. Seine Haut war an vielen Stellen aufgeplatzt und gab ihm das Aussehen eines Leprakranken, wie auch schon von der Frau geschlussfolgert wurde. Dieses Erscheinungsbild konnte sie jetzt nicht so schnell beheben, ohne, dass diese plötzliche Heilung auffällig wurde, oder sie selbst zu sehr ermüdete. Also mussten sie damit leben, bis sie wieder nur unter sich waren.
Aris sah mit Sorge zum Himmel, in dem Otto mit weit gespreizten Flügeln seine Kreise zog und nicht wusste, dass sein Frauchen sich eine Weile im Inneren des Hauses aufhalten würde.Wobei sie sich sicher war, dass seinen Adler-Rabenaugen auch dieses Detail nicht verborgen blieb. Der Vogel war zwar zahm, doch er konnte es auch eine Zeit ohne sie aushalten.
Jagen, sich selbst versorgen. All das wäre nur bei zu langer Dauer ein Problem. Nicht für den Magen des Raben, eher für die Seele, die man Tieren oft absprach. Doch jetzt musste sie aufhören, den Vogel zu beglucken, als sei er ihr Kind, sich besinnen und Geld verdienen. Geld, welches sie brauchten, um zu überleben. Für Kleidung, Waffen
und Nahrung. Oder nur einen Teil von alledem. Es war besser als nichts und auch, wenn die Worte dieser hemdsärmeligen Dame ungünstig gewählt worden waren, so schluckte Aris die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, hinab und nickte zum Ausdruck ihrer Zustimmung. Sie würden also zu Dienern für die reiche Oberschicht auf einem Maskenball werden.
Natürlich war es nicht so spektakulär, wie selbst ein schönes Kleid zu tragen und in der Gesellschaft dieser oppulenten Menschen zu verweilen. Doch die Nekromantin spürte angenehme Aufregung in ihrem Bauch kribbeln. Denn ein Blick in dieses Fest war spannend. Etwas, von dem sie sonst nur träumen konnte, gerade wegen dem, was sie war. Jetzt öffneten sich ihr diese Pforten von ganz allein. Was sagte man dazu? Das nannte man dann wohl einen schicksalshaften Zufall, selbst wenn sich diese Wortkombination im Kern widersprach.
Gemeinsam mit Rolan schritt sie durch das Tor, vorbei an dem Brunnen, den sie kurz aus ihren ungleichen Augen bestaunte und hin zum Eingang, der den Bediensteten vorbehalten war. "Entfern dich nicht zu weit von mir", flüsterte sie ihrem Begleiter zu. Zwar war sie nach ihrer reichhaltigen Mahlzeit gestärkt und fühlte sich trotz der Versorgung Rolans erstaunlich gut und kräftig. Trotzdem wäre nichts fataler, als ein Zusammenbruch aufgrund einer solchen Unaufmerksamkeit. Sie konnte nur hoffen, dass die Orte, an denen ihnen neue Kleidung und ein Bad zugedacht wurde,
nicht zu weit voneinander entfernt lagen, um eben genau dies zu vermeiden.
Während sie liefen, beäugte Aris die Umgebung. Einige hohe Hecken weckten ihre Aufmerksamkeit. Die hellen Augenbrauen zogen sich zusammen. Sie schienen unregelmässig gepflanzt worden zu sein, zeitgleich nahm sie die Absicht dahinter wahr, ohne den Sinn gleich zu verstehen. Aris bemerkte nicht, dass sie stehengeblieben war, ehe die Frau, die sie als ihre neuen Untergebenen betrachtete, das Wort an sie richtete. "Ein Labyrinth aus Hecken. Noch nie gesehen?" Als wäre es so etwas alltägliches, dass jemand auf seinem Grundstück einen Irrgarten pflanzen liess. Ob es wohl schon einmal jemanden gegeben hatte, der nicht aus dem Irrgarten herausgefunden hatte?
Die Nekromantin riss sich los und beschleunigte ihren Gang, um zu Rolan aufzuschliessen und nicht bereits jetzt schon durch einen zu grossen Abstand alles zu ruinieren, was sich vielleicht als lohnend für die Beiden herausstellen könnte.
Glücklicherweise waren Aris Sorgen unbegründet. Man hielt sie so dicht beieinander, wie es sich für jemanden ziemte, der keinen Ehering am Finger trug. Also trennten die beiden nur jeweils eine Tür in der Dienerunterkunft, hinter der sie sich herrichteten. Die kleine Frau stöhnte auf, als sie in das warme Wasser des Zubers glitt. Was für eine Wohltat! Nach all den Katzenwäschen mit kaltem Wasser aus Flüssen, oder kleinen Tümpeln, war dies wie ein Festtag für die Nekromantin, die sich endlich sämtlichen Dreck von Haut und Haaren waschen würde. Zeuge dafür war die braune Brühe, der sie danach entglitt und die sie über sich selbst die Nase rümpfen liess. "Na ich habe es ja weit kommen lassen." Dafür strahlte sie nur so vor Reinheit. Ihr Haar war wieder leuchtend weissblond, der graue Schmutzschleier war von ihrer Haut verschwunden und sie selbst fühlte sich irgendwie gesünder durch diese Säuberung. Dass man ihr ein Kleid zumutete, liess sie seufzen, doch der dunkle Stoff war sauber und fühlte sich unter den Fingern wunderbar weich an. Dafür konnte sie ihre geliebte Beinfreiheit für einen Abend und eine Nacht einbüßen. Aris schlüpfte in die Kleidung hinein, die ihr überraschender Weise wie auf den Leib geschneidert passte, steckte ihr Haar lose hoch und griff nach der Maske, die man ihr ebenfalls gestellt hatte.
Alle Bediensteten, wie man es ihr bereits mitgeteilt hatte, trugen die gleiche Maske, um sich von den Obrigkeiten zu unterscheiden und um es sich untereinander leichter zu machen, sollte man Fragen haben, oder sich untereinander absprechen müssen. Aris war es gleich. Sie fühlte sich nach diese, Bad mit echter Seife, einem sauberen Kleid auf dem Körper und einer Maske im Gesicht, gleich wie ein neuer Mensch. Irgendwie wichtig, irre geheimnisvoll und in einer Geschichte verwoben, die sie so nicht für sich erdacht hatte. Doch das machte es nur aufregender.
Als sie ihren Raum verliess, trat auch Rolan aus seinem Zimmer. Die Haut, die auch nach einem Bad noch keine Heilung erfahren hatte, war unter dem Hemd und der Hose verborgen, die er nun gegen seinen Fetzen Bauernkleidung ersetzt hatte. Der nun enger anliegende Stoff, brachte seine Statur zum Vorschein. Die Nekromantin liess ihren Blick wandern und zog die Augenbrauen voller Anerkennung unter der Maske nach oben. Sie mochte ihn nackt gesehen haben. Aber Kleider machten eben Leute. Da war was dran, wenn sie ihren Begleiter nun so betrachtete. "Schicke Maske", grinste sie und drehte sich einmal für Rolan. "Ich mag keine Kleider, aber...es ist ganz schick.Hoffen wir mal, dass wir keine Teller spülen müssen." Ihr Lächeln riss nicht ab. Woher ihre gute Laune kam, wusste sie selbst nicht. Vielleicht lag es an der Wendung ihrer bislang eher frustrierenden Reise. An dem Abenteuer, welches sich hier vor ihr ausbreitete und welches ihrem Wesen mehr entsprach, als sie es zugeben würde. Sie sah nicht oft über den Tellerrand hinweg. Kam nie dazu, das Leben hinter solchen dicken Steinmauern zu beobachten, welches die Reichen so führten. Pferderennen, man mochte es sich vorstellen! Denn damit wurde hier Geld verdient. Hier war so viel Leben...ganz anders als auf den Friedhöfen, auf denen sich Aris sonst so herum trieb."Warte..hier..wenigstens ein bisschen." Damit die Brandblasen der Sonne nicht durch das frische Hemd hindurchnässen würden. Vorsichtig, aber nun doch routinierter, legte Aris ihrem Igor die Hand auf den Unterarm und konzentrierte sich. Die Energie floss nun zielgerichteter zwischen den Beiden, was es ihr leichter machte, ihn zu nähren. Die Wunden auf seiner Haut schlossen sich, Rosigkeit kehrte in Rolans Teint zurück. Was dazu führte, dass sich das Hemd
nun mehr von seinem Hautton abhob. "Schon besser", nickte sie zufrieden und zupfte an ihrem Kleid herum.
"Da seid ihr ja!" Diese Stimme würde sie wohl immer zusammenzucken lassen. Die Frau, die sie auf der Strasse angesprochen und die sich noch immer nicht vorgestellt hatte-unhöflich, wie sie es wohl manchmal war- begutachtete ihre neuen Helfer kritisch. "Naja, es wird so gehen müssen. Mir nach." Und los ging es. Ein mehr als schneller Rundgang voller Informationen.
Da war die Küche, da kam das Essen, da wurde es hingebracht, da stand der Wein, da das Wasser, Etikette, Servietten, Dessert, Ein-und Ausgänge....Räume, die sie nicht betreten durften, andere Wege, die sie gehen MUSSTEN, um von einem Zimmer zum anderen zu kommen....Aris schwirrte der Kopf. "Macht es euch einfach und lauft den Anderen hinterher. Du da!" Aris blinzelte, als das Wort an sie gerichtet wurde. "Du bist so dürr, bist du sicher, dass du ein Tablett halten kannst? Die Gläser darauf wiegen was." Der kritische Blick der Alten strandete auf Aris ungleichen Augen. Sie runzelte die Stirn, als ihr dieser Makel zum ersten Mal ganz bewusst auffiel, doch sie sprach ihre Beobachtung glücklicherweise nicht an. Die Nekromantin nickte. "Ja das bekomme ich hin." Ein Nicken des Misstrauens. "Und du?" Nun war Rolan das Zentrum der unangenehmen Aufmerksamkeit dieser Schreckschraube. "Kannst du aus Flaschen einschenken? Kennst du die Etikette?" Denn es gab für solche Dinge durchaus Regeln. Von dieser Seite der Teller, von der Seite nachschenken, die Dame zuerst, dann doch wieder nicht...es war verwirrend und für jemanden wie Aris, die nur eine Gabel, Messer und Löffelart kannte,
völlig unnütz obendrein. "Sonst ist auch noch genug in der Küche zu tun."
Roland war völlig perplex, so wie die Herrin der Dienerschaft einfach drauf los quatschte und nicht einmal abwartete, welche Antwort sie ihr geben würden. Er sollte den Diener für die reichen Schnösel spielen? Sie waren hier halb am verhungern, während man von ihnen erwarten würde, den feinen Leuten Küchlein und Lammfleisch zu servieren? Der Gedanke ließ Rolan bereits die Galle aufsteigen. Er wollte bereits abwehrend die Hand heben und der Frau sagen, wohin sie sich ihren Lohn stecken konnte, als er das Lächeln seiner Gefährtin bemerkte, die irgendwie aufgeregt wirkte und der Arbeit zusagte. Für sie beide!
Rolan rollte mit den Augen und beklagte innerlich erneut sein Schicksal. Aber Aris hatte ja durchaus Recht mit ihrer Entscheidung. Wenn es Geld, Nahrung, Kleidung und ein Bad geben würde, war diese Arbeit vielleicht dekadent, aber dennoch hilfreich. Letztendlich hatte er auch als Söldner nur nach der Nase der reichen Leute getanzt, oder? Und dabei auch noch sein Leben riskiert. Hier würde er sich zumindest nur zum Affen machen. Der einzige Tod, der ihn hier erwarten würde, wäre der seines Stolzes. Und hatte er den nicht auch schon eingebüßt, als die Nekromantin ihm vom Baum geschnitten hatte?
Beinahe schon angewidert betrachtete er die opulente Pracht des Anwesens, als sich die kleine Gruppe dem Haus näherte. Es selbst zu besitzen wäre schon irgendwie klasse. Zu wissen, dass andere Leute in ihrem Leben mehr erreicht hatten oder einfach nur das Glück gehabt hatten, in die richtige Familie geboren zu sein, erfüllte Rolan hingegen mit Neid.
Auch er genoß das Bad im Zuber außerordentlich. Zwar spürte er nicht die wohlige Wärme des Wassers, aber es war dennoch ein tolles Gefühl, den Dreck vieler Tage von sich fort zu waschen. Auch lösten sich immer mehr Hautfetzen von Gesicht und Armen, wo die Sonne ihn verbrannt hatte und sie schwammen am Ende so richtig ekelig an der Oberfläche des Zubers herum. Nur gut, dass wohl ein anderer Diender für die Bäder zuständig war und er den Mist nicht selbst reinigen musste.
Die Kleidung der männlichen Dienerschaft war einfach geschnitten. Eine Art Hosenanzug aus schlichtem Wollfilz in Schwarz- und Brauntönen. Darunter ein simples, aber strahlend weißes Leinenhemd. Rolan war nur froh, dass er durch sein untotes Dasein nicht mehr so viel fühlen konnte, denn die Wolle hätte ihn sonst wohl vor Wärme und Jucken wahnsinnig werden lassen.
Die Masken, die alle Diener trugen, waren ebenso schlicht gehalten. Unscheinbare Porzellanmasken, die jeden, wie eine Puppe wirken ließen. Schließlich wollte man nicht von den prachtvollen Ideen der Gäste ablenken. Dabei war er doch schon tot. Wieso musste er sich auch noch das emotionslose Gesicht einer Leiche aufsetzen?
Die Kleidung der Mägde war wesentlich angenehmenr für die Augen, befand Rolan. Aber was hatte er schon mit Mode am Hut? Jedenfalls stand das Kleid der Nekromantin hervorragend und er konnte nicht umhin, sie ebenso von oben bis unten zu mustern, wie sie es auch bei ihm tat.
"Siehst gut aus." murmelte er kleinlaut.
Die Energie, die sie ihm daraufhin spendete, war wie eine warme Mahlzeit nach Tagen der Enthaltsamkeit. Er fühlte sich sogleich besser. Kräftiger. Wacher. Er wollte ihr gerade danken, da wurden sie rüde unterbrochen und Rolan bemerkte, wie Aris aufschreckte. Doch der Hauptmagd stand nur der Sinn nach einem effizienten Ablauf des Abends. Falls sie etwas zwischen ihnen beiden bemerkt hatte, so zeigte sie es jedenfalls nicht.
Rolan konnte sich die Begebenheiten gut merken. Wo was war und wo es Nachschub zu holen gab. Er hatte schon immer ein recht gutes Gedächtnis. Gerade wenn es darum ging, Schlachtpläne zu verinnerlichen, war ein gutes Gedächtnis einiges wert. Das Geschick war eher das Problem. Sein eigener Kampfstil mit einem Schwert würde wohl jeden Schwertmeister die Hände über dem Kopf zusammenschlagen lassen. Und nun als Untoter war es eh nicht so weit her mit der Feinfühligkeit. Mit Etikette, Weinkaraffen und anderen filigranen Tätigkeiten, würde es sicher Probleme geben.
"Ähm,... Flasche, Glas, kippen? Schon tausendmal gemacht."
Wobei das nicht ganz stimmte. War doch völlig unnötig ein Glas dreckig zu machen, wenn man direkt aus der Flasche trinken konnte. Dass Etikette auch bedeutete, dass man mehr Besteck verwalten musste, als ein Zeughausmeister Waffen, hatte Rolan schonmal irgendwo gehört. Warum das so war, wusste er auch nicht. Ein Löffel reichte doch für alles, oder? Klar, noch ein Messer, wenn das Fleisch mal wieder zäher war, aber für Rolan war Etikette bereits, wenn man seinen Kopf nicht in einen Trog steckte.
"Erklärt es mir schnell. Ich kann mir Dinge recht gut merken."
Die Magd rollte mit den Augen und gab einen klagenden Seufzer von sich. Scheinbar bereute sie gerade ihre Entscheidung, die beiden Wanderer eingestellt zu haben. Dennoch gab sie Rolan aber eine schnelle Einweisung. Dieser verinnerlichte alles Gesagte und nickte dann nur.
"Sehen wir mal, wie du dich machst." schnaubte die Frau, scheinbar wenig von Rolans Selbstsicherheit überzeugt.
Der restliche Nachmittag war geprägt mit weiteren Vorbereitungen. Aris wurde zwischendurch abkommandiert, einen Bereich des Hauses zu putzen, während Rolan die schweren Gepäcke der Gäste vom Hof auf die Gästezimmer schleppen musste. Gelegentlich konnte er spüren, wie das Band zwischen ihm und Aris aufgrund zu großer Entfernung strammer wurde. Seine Bewegungen wurden dann langsamer und er durfte sich die Schelte von Vorgesetzten und anderen Dienern anhören, dass er nicht zum Ausruhen hier sei. Glücklicherweise führten sie ihrer beider Wege nie zu weit voneinander fort, als dass Rolan, wie schon zuvor, einfach zusammen klappte.
Die Sonne sank langsam dem Horizont entgegen und Rolan hasste bereits alles, an diesem kleinen Abenteuer zwischendurch. Gab man ihm ein Schwert oder eine Hacke, er würde ohne zu Murren seine Pflicht erledigen. Aber für reiche Schnösel den Diener zu spielen? Wein einzufüllen, der mehr kostete, als ein ganzer Monatslohn? Speisen aufzutischen, die am nächsten Tag zum größten Teil den Schweinen vorgeworfen wurden, während woanders arme Söldner zum Banditenleben gezwungen wurden.
Oh, Rolan nahm sich vor, dass dieser Besuch sich für sie lohnen würde. Trotz der vorherigen Warnung würde er hier definitiv wertvolle Dinge mitgehen lassen, die vermutlich nicht einmal jemand vermissen würde. Er wusste nur noch nicht, wie er es anstellen sollte.
Der offizielle Teil des Abends begann und die Gäste verließen, nach ihren stärkenden Nickerchen, ihre Zimmer, um sich im Anwesen und auf dem ganzen Grundstück zu verteilen. Ein jeder Mann und eine jede Frau war festlicher gekleidet, als die Person zuvor und was die Kreativität bei der Wahl der Masken anging, waren keine Grenzen gesetzt. Das gesamte Tierreich war vertreten und zusätzlich mit Federn und wertvollen Steinen geschmückt. Männer, die kaum durch eine Tür passten, hatten die grazile Maske eines Panthers gewählt, während andere, schmächtigere Kerle, den Rüssel eines Elefanten im Gesicht hängen hatten und vermutlich damit irgendetwas kompensieren wollten. Es war dekadent. Es war widerlich!
Rolan drehte seine Runden, eine große Flasche sündhaft teuren Weins im Arm. Vermutlich hätte er mehr Grazie und Geschick an den Tag legen sollen, aber er füllte die Gläser sauber und ordentlich, ohne einen Tropfen zu verschütten. Zwar hatte er keine Ahnung, was er mit dem Tuch anstellen sollte, was jemand über seinen linken Unterarm geschlungen hatte, aber wer war er schon, gegen 'Etikette' zu wettern?
Immer wieder konnte er aus den Augenwinkeln seine kleine, weißblonde Nekromantin sehen, wie sie geschickt zwischen den Gästen umher huschte, fruchtige Cocktails anbot und leere Gläser einsammelte. Anerkennend betrachtete Rolan ihr Tun eine Weile, was ihm böse Blicke der anderen Diener einbrachte. Die kleine Aris steckte ja voller Überraschungen.
Noch war alles ganz ruhig und gesittet, doch Rolan hatte unter der Dienerschaft gehört, dass die Bälle der Vegelbuds immer wieder ausarteten. Für später waren Tänzer und Tänzerinnen engagiert, die halbnackt den Gästen einheizen sollten und da der Alkohol bereits vor dem Essen in Strömen floss, war zu erwarten, dass man auch all die Schattenseiten des Adels zu sehen bekam. Kotzende Frauen, prügelnde Männer und eine misshandelte Dienerschaft. Rolan hatte ein ganz mieses Gefühl bei der Sache. All die bewaffneten und gerüsteten Wachen des Anwesens, die stets alles aufmerksam beobachteten, würden sicher kurzen Prozess mit ihm machen, wenn er einem über die Strenge schlagenden Schnösel die Nase brach. Aber wenn Rolan eins nicht konnte, dann war es, sich Unhöflichkeiten von angeblich höher gestellten gefallen zu lassen.
Wieder suchte sein Blick nach seiner Gefährtin in der feiernden Menge. Er hoffte nur, dass sie keine Probleme mit betrunkenen Männern bekommen würde. Nicht nach der Geschichte, die sie ihm am Abend zuvor erzählt hatte.
Die Stunden zogen nur so an der Nekromantin vorrüber, die so gar nicht mitbekam, wie schnell der Abend den Nachmittag ablöste. Doch dass die Stimmung immer ausgelassener wurde, das bemerkte sie durchaus. Zum einen daran, dass es immer weniger bekleidete Menschen um sie herum gab, aber auch daran, dass die Manieren der Gäste immer mehr zu wünschen übrig liessen. Frauen und Männer wetteiferten darum, wer am Begehrenswertesten war. Es ging schon lange nicht mehr um Wetten, Pferde, oder Etikette. Ausgelassenheit wurde durch Schamlosigkeit abgelöst. Mittendrin das nüchterne Dienervolk, zu dem nun auch sie und Rolan gehörten. Das feiernde Volk der Oberschicht verteilte sich auf die innen Räumlichkeiten, als auch auf den Garten draussen. Dass noch nichts zu Bruch gegangen war, grenzte an ein Wunder. Aris jedoch versuchte, das alles auszublenden. Nicht hinzusehen, wenn sich ein neu, oder alt gefundenes Paar auf Möbeln umherwälzte und sich vielleicht nicht die Mühe machen würde, noch rechtzeitig ein Zimmer aufzusuchen. Sie gaben sich ihrer Gier hin, ihren niederen Instinkten. Ihrer Lust, die durch den Alkohol noch beflügelt wurde. Die kleine Weisshaarige wischte sich den Schweiss von der Stirn, wozu sie die Maske ein klein wenig verschieben musste. Da spürte sie es. Einen Blick. Keiner, der von flüchtiger Natur war. Sondern jener, der sich auf sie legte und dort haften blieb. Ihr folgte, wohin auch immer sie ging. Es war nicht Rolan. Rolan machte sie nicht nervös, denn ihm vertraute sie. Ob das klug und richtig war, würde sie noch herausfinden. Nein, der Blick entstammte einem gross gewachsenen schlanken Mann in gutem Zwirn und einer teuren Maske. Die ungewohnte Aufmerksamkeit veranlasste Aris dazu, mit dem Tablett voller schmutziger Gläser stehen zu bleiben und ihre Augenmerk ebenfalls auf den Fremden zu richten. Sein Haar war dunkel wie Ebenholz. Sein Körper trainiert, er schien niemand zu sein, der einen Beruf ausübte, in dem man sich nicht körperlich betätigte. Zu spät glitt ihr Blick zurück in das Gesicht, welches halb unter der Maske verborgen lag, welche einen Löwen darstellte. Sein Blick war zwar interessiert, zugleich aber feindselig. Kannte sie ihn? Umgehend kramte Aris in ihrem Gedächtnis, doch konnte sich an keine Begegnung mit diesem Mann erinnern. Und seine Optik war für eine Frau imposant genug, um im Kopf haften zu bleiben. Doch nein. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Warum also wirkte er so angespannt? Sein Blick glitt hinfort und strandete keine Sekunde später wieder auf ihr. Dann kam Bewegung in ihn und Aris Muskeln spanntens sich umgehend an. Flucht oder Kampf? Noch hatte sich ihr Körper nicht entschieden. Ganz dicht vor ihr blieb der Fremde stehen, dessen Duft sofort in Aris Nase waberte. Herb, ein wenig nach Wald, wenn sie sich nicht irrte. Aber sauber. Ein Hauch Seife, oder eins der teuren Wässerchen mit dem sich die Reichen gerne betupften, schwang in seiner ganz eigenen Duftnote mit. "Wer seid ihr?" Seine Worte waren ein Knurren, dunkel und ungeduldig. Aris brach Schweiss aus. Er hatte keine höfliche Floskel genutzt, um sie anzusprechen. Gleichsam hatte er sie nicht wie eine Dienerin behandelt und sein Glas wortlos auf ihr Tablett geknallt. Er sprach sie an. Einfach so. Ganz direkt und auf den Punkt kommend, der ihn wohl zu interessieren schien. "Ich bin eine Dienerin des Hauses Sir..." Die Nekromantin versuchte, den eigenen Blick zu senken, der viel zu intensiv auf den schwarzhaarigen Mann haftete. Doch seine Finger, lang und schlank, hoben ihr Kinn wieder an und durchkreuzten damit ihren Plan. Fest umfasste er mit Zeigefinger und Daumen ihr Kinn und zog sie ein wenig, so dass sie auf Zehenspitzen kam und sich die weissblonden Augenbrauen unter der Maske zusammenzogen. "Ein ungewöhnliches Paar Augen habt ihr, fürwahr." Und diese besagten Augen weiteten sich nun. Wofür hielt er sie? Was war er? WER war er? "Nennt mir euren Namen." Ihren Namen? Ihr Name war so ungewöhnlich, wie sie selbst es war. Es war unklug, ihn allzu bereitwillig zu verraten. Ihre Sorglosigkeit gegenüber der Zwergin, ihrer Mitbewohnerin, als auch dem Hexer, war etwas, was sich nicht wiederholen durfte. "A-nna", stammelte sie und versuchte sich dem Griff des Fremden zu entziehen. Es misslang ihr. "Anna, soso." Seine Stimme blieb noch immer dunkel. Leise und gefährlich. Sie hielt ihn zum Narren und sein Tonfall verriet ihr, dass er es wusste. Und es nicht billigte. "Wisst ihr, kleine Anna, was man über Augen, wie eure sagt?" Stumm schüttelte sie den Kopf, das Tablett in ihren Händen begann zu zittern, was die klirrenden Gläser verrieten. Niemand um sie herum scherte sich um diese Szenerie. Alle waren zu betrunken, zu lusterfüllt, zu eingenommen von sich selbst, um sich um eine einfache Dienerin zu kümmern. Wahrscheinlich wäre dem auch so, wenn dieses Fest nicht stattfinden würde. Menschen wie Aris wurden unsichtbar für jene, die sich für etwas Besseres hielten.
"In verschiedenen Mythen und Legenden werden Menschen mit diesen Augen, mystische und übernatürliche Kräfte zugeschrieben.Man spricht oftmals sogar von einem sechsten Sinn, der den Weg der Kommunikation mit Verstorbenen öffnet." An dieser Stelle brach der kleinen Frau der Schweiss aus. Dieser Fremde, der ihr noch immer nicht offenbart hatte, wer er war und ob er sie kannte, hatte es sich nicht zum Ziel gesetzt, sie zu schänden. Im Gegenteil. Er war so GAR NICHT interessiert an ihrer Erscheinung. Das kränkte sie nicht, doch es hätte es ihr leichter gemacht, ihn einfach abzuweisen. Jetzt allerdings lag das Problem darin, dass sie an jemanden geraten war, der ihre Andersartigkeit dazu nutzte, ihr nach dem Leben zu trachten. Die Mordlust stand plötzlich in den blauen Augen geschrieben, die begonnen hatten, dunkel zu funkeln. Rolan! Wo war Rolan? Er war gross und könnte diesen Mann doch die Stirn bieten! Doch bei all den Menschen und dem Lärm um sie herum, war es blödsinnig, nach dem Untoten zu rufen. Er würde sie nicht hören. Die Menge an Stimmgewirren, Lachen und Stöhnen im Haus, würde ihren Laut einfach schlucken. "Dann gibt es die Meinung, dass das linke Auge die Herzseite, also die Gefühle des Herzens wiederspiegelt." Er bewegte sich nach vorn und zwang damit Aris, zurück zu weichen. "Was sagt es also aus, dass dein Herz etwas anderes zu fühlen scheint, als deine Seele empfinden kann?" Ihr Herz ...es klopfte. Es raste. Der Fremde nahm ihr das Tablett aus den Händen und stellte es auf irgendeinem Möbelstück ab, an dem sie vorbeigingen, ohne hinzusehen. Rolan! Aris schluckte trocken, ein riesiger Kloß bildete sich in dem schlanken Hals, den sie einfach nicht hinabwürgeln konnte. Ihre Stimme versagte. Ab diesem Punkt war sie nicht mehr in der Lage, um Hilfe zu rufen.Der grosse Mann zog ein Messer. Wo nur hatte er dieses versteckt? Warum hatte sie es denn nicht bemerkt? Wut und Angst mischten sich in Aris Herzen.
Teils fasziniert, teils angewidert beobachtete Rolan das Geschehen um sich herum. Er war mit Sicherheit kein Kind von Trauer, wenn es um einen ausgelassenen Tavernenabend mit den Kameraden ging. Wein, Weib und Gesang und kaum Hemmungen. Aber das hier,... diese reichen Schnösel hatten doch alle einen an der Klatsche!
Wie es Aris wohl erging? Ob sie bereits ebenso die Schnauze voll hatte, den Hampelmann für diese reichen Fatzkes zu machen? Anfangs schien sie völlig motiviert gewesen zu sein. Vermutlich hatte es an all dem Prunk und den Kleidern gelegen. Frauensachen halt.
Gerade war ein völlig durchnässtes Pärchen an ihm vorbei gehuscht, mit nichts, als strategisch platzierten Seidenschals am Leib. Ihre nassen Fußspuren zogen sich vom großen Marmorbrunnen im Innenhof, bis hin zu den dekadent bezogenen Chaiselounges in einem der vielen Salons des Anwesens. Und natürlich war ein anderer Diener eiligst dabei gewesen, hinter ihnen her zu wischen. Wobei dies, wenn Rolan sich so umsah, eine vergebene Liebesmühe war. Überall waren die Spuren verschütteten Weines, zerbrochener Gläser oder vergossener Mageninhalte zu sehen. Oder zu riechen.
Er brauchte ganz dringend frische Luft!
Somit machte er sich auf den Weg in den Innenhof, um dort einmal tief durch zu atmen. Zu dieser Zeit waren hier viele der Diener versammelt, um sich eine kleine Pause zu gönnen und die Haushälterin hatte sicherlich alle Hände voll zu tun, überall gleichzeitig zu sein und Disziplin zu wahren. Aber glücklicherweise war die schreckliche Frau hier nirgends zu sehen. Zeit, sich ein Pfeifchen zu gönnen, welches er mitsamt Tabaksbeutel von einem der Beistelltische hatte mitgehen lassen. Wenn diese Vegelbuds nicht wollten, dass man es mitnahm, dann sollten sie es eben abschliessen oder festnageln! So einfach war manchmal die Welt.
Er hatte gerade die Pfeife entzündet und den ersten Zug des sündhaft teuren Tabaks genossen, da sprach ihn eine Frauenstimme an. Wobei das kreischende Etwas wohl weder sprach, noch eine Frau sein konnte. Das ... Wesen, welches in etwa so breit wie hoch war und ... den Göttern sei Dank, noch voll bekleidet, schnippte auffordernd mit den Fingern und verlangte nach ihm. Das Kleid, welches sie trug, wirkte sündhaft teuer und war am Kragen mit aufgestelltem Fellbesatz versehen. Vermutlich, um sie größer erscheinen zu lassen. Aber im Endeffekt sorgte es nur dafür, dass sie wie ein fettes, räudiges Eichhörnchen aussah.
"Du da! Sauber machen!"
Ihre Hand fuhr mit ausgestrecktem Finger nach unten und als Rolans Blick folgte, sah er, dass einer ihrer rosanen Lackschuhe mit Wein befleckt war. Rosa! Rolan revidierte seine Meinung. Damit sah die Frau eher, wie ein halb geschorenes Wildschwein aus!
Der ehemalige Söldner seufzte schwer und rollte mit den Augen. Er hatte echt die Schnauze voll. Kein Geld der Welt war diese Demütigung wert. Andererseits hatten Aris und er bereits den größten Teil des Abends hinter sich und wenn sie noch ein wenig durch hielten, würden sie sicherlich bezahlt werden. Grummelnd schnappte er sich ein Platzdeckchen von einem der Beistelltische und beachtete gar nicht, wie er damit zwei leere Gläser und eine halb leer gegessene Schüssel mit Nüssen zu Boden schickte.
"Hast du das gesehen, Eckehardt?!" kreischte die Frau und rammte ihrem langen und schlacksigen Begleiter den Ellenbogen in die Rippen, welcher daraufhin röchelnd noch mehr Wein auf dem Boden verteilte.
"Der Diener hat mit den Augen gerollt! Ist es zu fassen?!"
Ihr Mann murmelte nur etwas, kümmerte sich aber nich weiter um die scheinbar zu Genüge bekannten Tiraden seiner Frau.
"Bursche?! Wie ist dein Name?! Ich werde dich lehren, die Augen zu rollen, wenn du stattdessen kriechen solltest!"
Da platzte Rolan nun endgültig die Hutschnur. Er war kein Mann, der Frauen schlug, aber dieses,... Ding da vor ihm bettelte förmlich darum. Zumindest würde er ihr seine Meinung sagen. Scheiß doch auf das Geld! Er baute sich bereits mit in die Hüften gestemmten Händen vor der Adeligen auf und überragte sie um einiges dabei. Wer schaute nun abwertend auf wen herunter, häh?!
Beinahe wäre die Situation weiter eskaliert, denn Rolan wollte gerade zu einer ganz eigenen Tirade ansetzen und das rundliche, fellbesetzte Ding vielleicht sogar ein wenig durch die Gegend schubsen, da kam die Rettung von oben. In Form eines dicken Vogelschisses. Direkt auf den rundlichen Kopf mit den fettigen Haaren. Klatsch! Und ein Teil landete sogar noch im teuren Fellbesatz des Kleides. Lachend folgte Rolans Blick dem Flug des Raben. Otto war ihm zu Hilfe gekommen! Oder hatte er eigentlich auf den Untoten gezielt und daneben geschossen? Letztendlich aber, hatte der Vogel ihm einen großen Dienst erwiesen. Die Frau kreischte und zeterte und reckte ihre kleine, stummelige Faust in den Himmel, als ob sie damit den Zorn der Götter auf das entkommende Tier richten könnte. Tja,... Geld konnte nicht jeden Dienst erkaufen, kam es Rolan vergnügt in den Sinn. Er nutzte die Ablenkung jedenfalls geschickt aus, um den Gartenbereich zu verlassen. Bloß weg von dieser grauenhaften Fellkugel.
Wieder im Innenbereich ging er gut gelaunt die Gänge entlang, reichte einigen der höflicheren Gäste Wein und gönnte sich, wenn niemand zu sah, auch selbst mal ein Gläschen. Dann plötzlich - er steckte gerade mitten auf der Tanzfläche fest, um einige zerbrochene Gläser aufzufegen - war es ihm, als ob ihn jemand rief. Eimer und Schaufel noch in der Hand, richtete er sich auf und schaute sich im Saal um. Bei der lauten - und mittlerweile sehr schrägen - Musik war es eigentlich völlig unmöglich, dass ein Ruf bis zu ihm vorgedrungen sein konnte. Er zuckte mit den Schultern und beendete seine Arbeit auf der Tanzfläche. Auf dem Weg an den Rand vernahm er wieder dieses Gefühl gerufen zu werden, obwohl nichts dergleichen an seine Ohren gedrungen war. Es war mehr, wie ein Ziehen. Ein Gefühl, gebraucht zu werden.
Aris!
Verdammt! Steckte sie in Schwierigkeiten? Auf solch einer Party, bei der die Reichen Schnösel keine Hemmungen hatten und in den Dienern weniger sahen, als in Packpferden, konnte eine hübsche Frau sehr schnell in gefährliche Situationen geraten. Er ballte die Hände zu Fäusten und konzentrierte sich. Ein Gast tippte ihm auf die Schulter, da er für die Tanzenden doch wohl ein Hindernis darstellte, doch Rolan ignorierte ihn einfach, was zu empörten Äußerungen hinter ihm führte. Doch das war dem Untoten gerade egal. Er drehte sich langsam auf der Stelle, bis seine Sinne und die Verbindung mit seiner Nekromantin ihm sagten, dass er in die richtige Richtung blickte. Nun legte sich sogar eine Hand auf seine Schulter, doch Rolan riss sich einfach los und stapfte in die ermittelte Richtung davon.
Wehe dem, der seiner Gefährtin etwas antun wollte!
Sie beugte sich weiter nach hinten, als der Hexenjäger sich ihr entgegen neigte. Es gab nichts, vor dem es sich zu ekeln galt. Kein schlechter, fauliger Atem, der von ungepflegten Zähnen herrührte. Kein zu stark erhöhtes Körpergewicht, welches sie als unansehnlich empfinden würde. Kein Schweissgeruch. Nichts. Der Fremde war durch und durch
attraktiv, doch Ekel empfand sie dennoch. Ekel und Abscheu. Vor ihm und wie er seine körperliche Stärke zu nutzen gedachte, um sie in ihre Schranken zu weisen. Um sie als etwas zu brandmarken, das sie nicht war. Um sie entweder selbst zu töten, oder es anderen zu überlassen, denen er sie, wie eine Jagdtrophäe, übergeben würde. Um einen Lohn zu kassieren. Oder auch nicht. Vielleicht war ihm ihr Schicksal Lohn genug. Ihm und seinem kleingeistigen Denken.
Da sollte nochmal einer sagen, Nekromanten seien gefährlich, weil sie mit dem Tod und Jenen "spielten", die ihm bereits begegnet waren. Von wegen! Ihre Nekromantie brachte sie jetzt und hier keinen Deut weiter. Es war keine wirksame Gegenwehr gegen geistesgestörte Menschen mit Waffen. Wie dieses Messer, welches sich ihr ebenfalls entgegen bewegte.
Eine Abstellkammer war es, die sie nun, rückwärts getrieben wie ein Tier, betrat. Aris saß in der Falle. Als sie weiter rückwärts glitt, um der scharfen Klinge zu entgehen, ertastete sie hinter sich Holzbretter und darauf...Glas. Eingewecktes, mit Sicherheit. Hier war die Vorratskammer. Mit Speisen aller Art. Nun nahm sie auch verschwommen die anderen Nahrungsmittel wahr. Wasser, Wein und Säfte in Flaschen, einen ganzen Laib Käse, gepökeltes Fleisch und andere Wurstwaren, Gewürze...der Fremde jedoch hatte für seine Umgebung keine Augen. Sein Blick hatte sich
unabänderlich auf die Nekromantin geheftet, die er nun dort hatte, wo sie ihm nicht mehr entwischen konnte.
Obgleich Aris keinen Gestank aus dem Mund des Mannes mit den dunklen Haaren wahrnahm, so roch sie doch etwas Anderes: Alkohol. Er hatte getrunken und war, wenn er hier als Gast geladen wurde, ebenso an Exzesse und dem Nachgeben seiner niederen Triebe gewohnt. All das glänzte ihr aus seinen blauen Augen entgegen. Die Lust und der Gedanke daran, diese an ihr auszuleben, war ihm ganz deutlich an der Stirn abzulesen, hinter der sein Hirn ratterte.
Die Weissblonde gab sich mutig. "Habt ihr keine Angst, dass ich euch die Pest auf den Hals jage?" Denn solche Gräueltaten
sagte man den Hexen doch nach. Humbug, wenn es nach Aris ging. Doch die Menschen waren dumme Herdentiere und glaubten ja so ziemlich jedem Mundpropaganda. "Ich denke, dass dieses kleine Abenteuer einen Fluch wert sein könnte", säuselte der Jäger und heftete ihr ruckartig die Klinge des Messers an die Kehle. Aris presste sich an das Regal hinter sich, wobei sich dieses unangenehm schmerzhaft in ihren Rücken bohrte und wurde gezwungen, still zu halten, wollte sie nicht ihr Blut fliessen sehen. Mit einem Siegesfunkeln im Blick drängte sich der Jäger an die schmale Gestalt und drückte sie nur noch mehr gegen die Regalböden. Was sie spürte, liess sie fast erbrechen vor Angst. Dieser Mann hatte sich seinen Tagträumen wirklich genug hingegeben, um ganz und gar bereit für eine Schandtat zu sein. Danach würde er wohl behaupten, sie habe ihn verführt, eine Hexe, die sie ja war. Zügellos und ohne Anstand hätte sie ihn in diese Kammer
gelockt, um ihn dort zu beglücken. Nur, um ihm danach seinen Ruf zerstören zu wollen, mit den heidnischen Lügen, die sie den Menschen aufzutischen gedachte. Ein Grund mehr, lichterloh auf dem Scheiterhaufen zu brennen.
Aris drehte den Kopf weg und kniff die Augen zusammen, während der Mann mit seiner Nase durch ihr helles Haar fuhr und ihren Geruch in sich aufsaugte. Sie wollte das hier nicht. Es war falsch und doch geschah genau das jeden Tag, überall auf der Welt. Männner nahmen sich, was sie wollten. Weil sie es konnten. Weil sie stärker waren, als die Frauen, jedenfalls die Meisten von ihnen. Körperlich überlegen. Sie hatte keine Chance. Und an Stelle des Kampfes, packte sie die blanke Furcht und liess sie erstarren. Aris schrie nicht. Aris kratzte, biss, weinte und schlug nicht um sich. Sie hörte, wie der Atem des Hexenjägers schneller an ihrer empfindsamen Haut ihres Halses brach, ins Stocken geriet und sich wieder löste, als er begann, sich mit Druck an ihr zu reiben. Mit einem Ruck hatte er mit der freien Hand, die nicht das Messer halten musste, seine Hose gelöst, die ihm nun bis auf die Knöchel hinab fiel.
ROLAN!
Es war so töricht von ihr. Er war weit weg, vielleicht inzwischen so weit, dass er sich nicht mehr geschmeidig bewegen
konnte. Vielleicht musste er draussen die feierwütige Meute bedienen. Und was, wenn es ihn gar nicht berührte? Hatte er sie nicht verflucht? Sich gewünscht, dass ihre Verbindung brachß Das wäre seine Chance...und er hätte keine Schuld daran. Nein, nein so durfte sie nicht denken. So war er nicht, sie hatte den Richtigen erweckt, denn nichts geschah ohne Grund. Ausser dem hier vielleicht, denn welche Rechtfertigung gab es schon für eine Vergewaltigung und die Verurteilung zum Tode?
Die freie Hand des Jägers glitt zum Saum ihres Kleides. Aris wimmerte, dann erbrach sie sich im Schwall und sehr geräuschvoll, was den Mann kurz zurück weichen liess. Doch die verdammte Klinge löste sich nicht von ihrer Kehle. Sie verharrte weiter genau unterhalb ihres Kinns und erinnerte sie daran, keine Dummheiten zu machen. Das Platschen ihres Mageninhalts durchdrang die Stille des kleinen Raumes, in dem es mittlerweile unerträglich stickig war. Abstellkammern hatten im seltensten Fall ein Fenster, so drang keine frische Luft hinein und die Gewürze lagen schwer im Raum. Hinzu kam nun der saure Gestank ihres Erbrochenen, welches dabei war, in die Holzdielen des Bodens einzuziehen.
Aris japste nach Luft, doch ihr Magen rebellierte und zog sich abermals zusammen, was ein erneutes Würgen zur Folge hatte. Doch es beförderte nur Galle nach oben. Galle, die sie dem Fremden zielgerichtet ins Gesicht spuckte.
Mit einem Schrei des Ekels, wischte er das Sekret fort und verpasste der kleinen Frau mit der Rückhand eine Ohrfeige, die ihr das Blut durch die NAse schiessen liess. Es pfiff in ihrem Ohr, ihr Sichtfeld verschwamm. "Nana, jetzt nicht ohnmächtig werden, wir wollen doch, dass auch du deinen Spass hierbei hast." Er tätschelte ihr grob die Wange, was sie in der Gegenwart festhielt. Ihr Saum des Kleides einer Bediensteten wurde gelüftet und ihr bis über die Knie geschoben, als der Fremde sich erneut an sie presste. Sein gedämpftes Stöhnen drang an ihr Ohr, doch es war, als wäre alles sehr weit weg. Aris spürte Blut. Es floss ihr warm aus der Nase, troff über ihren Mund und rann an ihrem Kinn hinab. Doch da war noch mehr davon. Die Klinge hatte ihren Weg durch die Haut der Nekromantin gefunden, wahrscheinlich während des Erbrechens und hatte einen Schnitt in der empfindlichen Haut hinterlassen. Auch aus diesem drang der rote Lebenssaft hervor und rann ihr über den Hals in die Bluse, die sie am Leibe trug.
Rolan. Alles verschwomm erneut, Aris kämpfte darum, ihr Bewusstsein nicht zu verlieren. Würde dies eintreten, wäre sie aus so vielen Gründen verloren. Sie und Rolan dazu.