Platz des Hierarchen | Die Straße vor dem Eisvogel
Verfasst: Samstag 12. November 2022, 14:25
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von: Aus dem Eisvogel
Datum: Vormittags am 4. August 1278
betrifft: Viktor, Slava
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Stundenlang hatte er auf der harten Strohmatratze gelegen, in einem fremden, winzigen und nicht mal wirklich sauberen Zimmer. In einem Gasthaus wie aus dem Märchen. In einer anderen Welt. Einer Welt, in der es Magie gab, die seine Finger im Handumdrehen geheilt hatte - ein ums andere Mal musterte er die drei narbigem Stümpfe - und in der es Monster, Ritter und fromme Frauen gab. Deren Menschen aussahen wie aus einem Historienschinken und die eine Sprache sprachen, von der er Bruchstücke verstehen konnte, die aber trotzdem fremd war. Sein Kopf versuchte mit all dem und der Tatsache, dass er scheinbar einen fremden Geist als Untermieter mitgebracht hatte, klar zu kommen. Das Resultat war lähmender Stillstand. Er lag nur herum, trank Wasser oder Tee und wälzte sich in seinen Gedanken, ohne wirklich von der Stelle zu kommen. Dazu kam, dass ihn Amirs Tod beschäftigte - mehr noch der Umstand, dass der Junge kein ordentliches Begräbnis bekommen hatte. Heidnische Riten einer fremden Welt. Nichts für die unsterbliche Seele eines guten Jungen.
Der Tag zerfloss, die Nacht brachte unruhigen Schlaf, wirre Träume und noch mehr Gedanken während er wach lag. Was sollte er jetzt nur machen? Hier geblieben war nur der Arzt, dessen Sprache er nicht verstehen konnte. Kolja war an diesem Anwesen zurück geblieben - und Viktor fragte sich zum hundertsten Mal, wieso er nicht auch dort geblieben war - und der Ritter, der scheinbar Slava kannte, war mitsamt Knappe in der Stadt verschwunden. Schöner Mist. Wie sollte er seinen ehemaligen Chef jetzt finden, in diesem stinkenden Dorf? Wobei, wie er Slava kannte, müsste er sich nur von oben die Hierarchie hinter suchen und würde schon nach wenigen Stufen fündig werden - wenn da nicht die Sprachbarriere gewesen wäre.
So in endlose Debatten mit sich selbst verstrickt, war Viktor irgendwann erschöpft eingeschlafen und der, der gegen Vormittag die Augen aufschlug, war ein anderer. Der Fährtenleser war so völlig erschlagen, dass sein seelischer Begleiter tatsächlich der erste war, der wach wurde. Dunkelblaue Augen öffneten sich, blinzelten ins trübe Licht, das durch die Haut vor dem Fensterloch fiel. Und auch dieser sah sich leicht irritiert um, schwang dann die Beine aus dem Bett und zog das Shirt hoch, um etwas ungläubig mit der Hand seinen Bauch zu betasten. Keine Wunde, nicht einmal eine Narbe. Er müsste tot sein und saß doch hier, auf einer harten Matratze in einem kleinen, düsteren Raum.
Maximilian musterte "seine" Hände, doch sie gehörten definitiv nicht ihm. Andere Form, drei Finger der Rechten fehlten, außerdem fehlten beide Ringe: sein Ehering und der Siegelring des Großmeisters. Er fuhr sich durch Gesicht und Haar, doch alles fühlte sich fremd an. Das Haar zu lang, die Haut faltiger, als er es in Erinnerung hatte und das Gesicht hager. Hohe Wangenknochen - anders, einfach anders. Das ganze Körpergefühl war ein anderes. Doch er blieb ruhig, ließ sich zunächst darauf ein.
Langsam erhob er sich, streckte die Glieder, richtete sich zu einer Haltung auf, die der Körper nicht so recht gewohnt zu sein schien. Schultern zurück, Kopf hoch, Brust gespannt.
Aus dem Fenster konnte er nicht schauen, also würde er sich einfach erst mal draußen umsehen, Indizien sammeln. Informationen, die ihn schon irgendwie weiter bringen würden, was seine Situation anging. Maximilian war kein Mann, der schnell resignierte. Er war mit Vorgängen vertraut, die jenseits der Gesetzmäßigkeiten standen, die andere Menschen als normal empfanden. Das Metaphysische war ihm nicht fremd, seine Akzeptanzschwelle durchaus niedrig. Folglich würde er jetzt nicht in Panik geraten, obwohl die Emotio genau das raten wollte, denn zwei Fakten, vielleicht drei, hätten jeden anderen Menschen wohl schon aus der Bahn geworfen:
Erstens - Er war nicht mehr er selbst.
Zweitens - Dies hier war nicht sein Kloster und scheinbar auch nicht die USA seiner Zeit
Drittens - Er war gestorben.
Bevor er sich also weiter in Annahmen verstrickte, würde er sich umsehen. Mit aller gebotener Vorsicht. Er nahm die Jacke, die über einen Stuhl hing und verließ das Zimmer. Flur und Stiegenhaus verstärkten den Eindruck, in einem noch altertümlicheren Gebäude zu sein, als es das Kloster gewesen war. Die Geräusche und Gerüche passten zum Bild, die Gäste im Schankraum, in den er jetzt trat, ebenso. Die Hände in den Taschen der Jacke vergraben, sah sich Maximilian um, blickte den Personen ins Gesicht, was die meisten dazu bewog, den Blick zu senken. Und taten sie es nicht, ließ er gewissenhaft ab von ihnen, um nicht provokant zu erscheinen.
An einem Tisch mit drei Personen im hinteren Bereich blieb sein Blick etwas länger hängen, weil ihm der Eindruck entstand, wenigstens zwei der Männer dort kennen zu müssen. Doch das Gefühl war zu vage und er wollte sich erst draußen umsehen. Ohne weiter Umschweife marschierte er also durch den Schankraum, wobei man ihm unwillkürlich auswich, öffnete die Tür und trat nach draußen auf die laute Straße. Der Geräuschpegel und die Geruchsmelange waren im ersten Moment überwältigend. Eine volle Straße mitten am Tage, geschäftige Menschen, brüllende Händler, lärmende Kinder. Und alle gekleidet wie im Freilichtmuseum oder einem dieser Fantasy-Filme, die Nila so liebte. Sprachlos staunend sah er sich um, trat nur ein wenig zur Seite, um den Karren und Pferden auszuweichen, die sich ebenfalls durch den Verkehr wälzten.
Nun gut, jetzt war es vielleicht doch langsam an der Zeit, nervös zu werden.
Wo zum Geier war er?
Oder besser: Wann?
von: Aus dem Eisvogel
Datum: Vormittags am 4. August 1278
betrifft: Viktor, Slava
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Stundenlang hatte er auf der harten Strohmatratze gelegen, in einem fremden, winzigen und nicht mal wirklich sauberen Zimmer. In einem Gasthaus wie aus dem Märchen. In einer anderen Welt. Einer Welt, in der es Magie gab, die seine Finger im Handumdrehen geheilt hatte - ein ums andere Mal musterte er die drei narbigem Stümpfe - und in der es Monster, Ritter und fromme Frauen gab. Deren Menschen aussahen wie aus einem Historienschinken und die eine Sprache sprachen, von der er Bruchstücke verstehen konnte, die aber trotzdem fremd war. Sein Kopf versuchte mit all dem und der Tatsache, dass er scheinbar einen fremden Geist als Untermieter mitgebracht hatte, klar zu kommen. Das Resultat war lähmender Stillstand. Er lag nur herum, trank Wasser oder Tee und wälzte sich in seinen Gedanken, ohne wirklich von der Stelle zu kommen. Dazu kam, dass ihn Amirs Tod beschäftigte - mehr noch der Umstand, dass der Junge kein ordentliches Begräbnis bekommen hatte. Heidnische Riten einer fremden Welt. Nichts für die unsterbliche Seele eines guten Jungen.
Der Tag zerfloss, die Nacht brachte unruhigen Schlaf, wirre Träume und noch mehr Gedanken während er wach lag. Was sollte er jetzt nur machen? Hier geblieben war nur der Arzt, dessen Sprache er nicht verstehen konnte. Kolja war an diesem Anwesen zurück geblieben - und Viktor fragte sich zum hundertsten Mal, wieso er nicht auch dort geblieben war - und der Ritter, der scheinbar Slava kannte, war mitsamt Knappe in der Stadt verschwunden. Schöner Mist. Wie sollte er seinen ehemaligen Chef jetzt finden, in diesem stinkenden Dorf? Wobei, wie er Slava kannte, müsste er sich nur von oben die Hierarchie hinter suchen und würde schon nach wenigen Stufen fündig werden - wenn da nicht die Sprachbarriere gewesen wäre.
So in endlose Debatten mit sich selbst verstrickt, war Viktor irgendwann erschöpft eingeschlafen und der, der gegen Vormittag die Augen aufschlug, war ein anderer. Der Fährtenleser war so völlig erschlagen, dass sein seelischer Begleiter tatsächlich der erste war, der wach wurde. Dunkelblaue Augen öffneten sich, blinzelten ins trübe Licht, das durch die Haut vor dem Fensterloch fiel. Und auch dieser sah sich leicht irritiert um, schwang dann die Beine aus dem Bett und zog das Shirt hoch, um etwas ungläubig mit der Hand seinen Bauch zu betasten. Keine Wunde, nicht einmal eine Narbe. Er müsste tot sein und saß doch hier, auf einer harten Matratze in einem kleinen, düsteren Raum.
Maximilian musterte "seine" Hände, doch sie gehörten definitiv nicht ihm. Andere Form, drei Finger der Rechten fehlten, außerdem fehlten beide Ringe: sein Ehering und der Siegelring des Großmeisters. Er fuhr sich durch Gesicht und Haar, doch alles fühlte sich fremd an. Das Haar zu lang, die Haut faltiger, als er es in Erinnerung hatte und das Gesicht hager. Hohe Wangenknochen - anders, einfach anders. Das ganze Körpergefühl war ein anderes. Doch er blieb ruhig, ließ sich zunächst darauf ein.
Langsam erhob er sich, streckte die Glieder, richtete sich zu einer Haltung auf, die der Körper nicht so recht gewohnt zu sein schien. Schultern zurück, Kopf hoch, Brust gespannt.
Aus dem Fenster konnte er nicht schauen, also würde er sich einfach erst mal draußen umsehen, Indizien sammeln. Informationen, die ihn schon irgendwie weiter bringen würden, was seine Situation anging. Maximilian war kein Mann, der schnell resignierte. Er war mit Vorgängen vertraut, die jenseits der Gesetzmäßigkeiten standen, die andere Menschen als normal empfanden. Das Metaphysische war ihm nicht fremd, seine Akzeptanzschwelle durchaus niedrig. Folglich würde er jetzt nicht in Panik geraten, obwohl die Emotio genau das raten wollte, denn zwei Fakten, vielleicht drei, hätten jeden anderen Menschen wohl schon aus der Bahn geworfen:
Erstens - Er war nicht mehr er selbst.
Zweitens - Dies hier war nicht sein Kloster und scheinbar auch nicht die USA seiner Zeit
Drittens - Er war gestorben.
Bevor er sich also weiter in Annahmen verstrickte, würde er sich umsehen. Mit aller gebotener Vorsicht. Er nahm die Jacke, die über einen Stuhl hing und verließ das Zimmer. Flur und Stiegenhaus verstärkten den Eindruck, in einem noch altertümlicheren Gebäude zu sein, als es das Kloster gewesen war. Die Geräusche und Gerüche passten zum Bild, die Gäste im Schankraum, in den er jetzt trat, ebenso. Die Hände in den Taschen der Jacke vergraben, sah sich Maximilian um, blickte den Personen ins Gesicht, was die meisten dazu bewog, den Blick zu senken. Und taten sie es nicht, ließ er gewissenhaft ab von ihnen, um nicht provokant zu erscheinen.
An einem Tisch mit drei Personen im hinteren Bereich blieb sein Blick etwas länger hängen, weil ihm der Eindruck entstand, wenigstens zwei der Männer dort kennen zu müssen. Doch das Gefühl war zu vage und er wollte sich erst draußen umsehen. Ohne weiter Umschweife marschierte er also durch den Schankraum, wobei man ihm unwillkürlich auswich, öffnete die Tür und trat nach draußen auf die laute Straße. Der Geräuschpegel und die Geruchsmelange waren im ersten Moment überwältigend. Eine volle Straße mitten am Tage, geschäftige Menschen, brüllende Händler, lärmende Kinder. Und alle gekleidet wie im Freilichtmuseum oder einem dieser Fantasy-Filme, die Nila so liebte. Sprachlos staunend sah er sich um, trat nur ein wenig zur Seite, um den Karren und Pferden auszuweichen, die sich ebenfalls durch den Verkehr wälzten.
Nun gut, jetzt war es vielleicht doch langsam an der Zeit, nervös zu werden.
Wo zum Geier war er?
Oder besser: Wann?